.11. So ein Tag

Meine Suse war gegen Ende März krank, Husten, Kopfweh, alles. Aber, sagt sie, kein Fieber, Covid 19 ist es nicht. Ich warf zaghaft ein, es gebe viele untypische Verläufe, asymptomatische Fälle. Nein, nein, sagt sie. Hab ich nicht. Bestimmt nicht.

Jetzt, einige Zeit später, sagt sie: Hoffentlich hatte ich Covid 19. Es spricht einiges dafür. Bestimmt hatte ich es.

Heute ist ein herrlicher Tag, es hat die Nacht über geregnet und du kannst zusehen, wie das Grün grünt und die Pflanzen atmen und der Staub aus der Luft verschwindet und wie es mit einem Mal Frühling ist; das Frühlingwerden hat sich in diesem Jahr so lang hingezogen, viel kalte Winde, frostige Nächte wie im ganzen Winter nicht. Und plötzlich geht ein Ruck durch die Welt, zumindest durch den kleinen übersichtlichen Teil meiner Welt, als habe der Organismus Natur auf diesen einen Regen gewartet und gewartet und nun ist er da, und die Entfaltung, die Explosion kann stattfinden.

Ein Tag, ein Friedhelm oder Sieglinde oder Mittwoch, ich weiß es nicht, ein Tag eben. Ich habe viel am Schreibtisch gesessen, eine Rede korrigiert, die Schweine-Geschichte eingegeben; Ersteres hat mich in elendig schlechte Laune versetzt – diese alte Geschichte. Es ist alles so vorbei. Und ich eine Andere. Aber dann, Erich, das Schwein, hat alles wieder gut gemacht und meine Laune schlagartig gehoben. Mittags konnte ich nicht schlafen, meine heiligen 20 Minuten, furchtbar aufgekratzt in einem nervenzerfetzenden Sinne…

Am liebsten laufe ich früh am Tag, zwischen 7 und 9 Uhr. Heute war es Nachmittag, nach vier, unglaublich viele Menschen auf den Straßen unterwegs. Das Kino hat geöffnet, zumindest sein Außenfenster für Popkorn und Gutscheine.

Durch den Park, die ersten Kinder auf dem Spielplatz. Über die Brücke und einen Feldweg entlang. Links Weiden, Wiesen, Trauerweiden, Korbweiden, alte Bäume, gefallene Baume, aus denen in der Mitte Neues senkrecht empor wächst, Ahorn, Feldulme, Esche, und rechterhand Büsche, Weißdorn, Schlehe, vor allem hundertmeterweise blühender Flieder, hellblauer, dunkler, einfacher, gefüllter, ich bin in Duftschwaden eingehüllt. Und ja, tatsächlich, sie riechen unterschiedlich. Und plötzlich steigt ein Landwind auf und geht über mich hinweg, ein altmärkischer großmütterlicher Landwind, und ich fahre mit dem Fahrrad den Berg hinunter oder renne am Bahndamm entlang und reiße die Arme auseinander, argwöhnisch von meiner Cousine beobachtet, die solche Gefühle ebenso wenig leiden kann wie meine Bücher und meine Leseleidenschaft. Ein Freiheitswind, einer von der Art, die in mir ein Gefühl tiefsten Einverständnisses auslöst, mit mir, mit meinem Leben, offenbar auch mit der Welt. Ich möchte mich reinwerfen, anlehnen, ich bin getröstet, ich bin Teil von allem. Noch mehr Flieder und Flieder, die üppigen Dolden, ich schiebe mein Gesicht tief in den Strauch hinein, die Blüten in meiner Nase, in meinem Mund. Hier bleibe ich für den Rest meines Lebens, ich krieche in die Blüten hinein; Krise, Viren, Alter, Alleinsein – nichts hat Bedeutung.

Parallel zum Feldweg und dem Flieder verläuft ein zweiter Weg, dahinter kleine Häuser, Wohnhäuser und Datschen. Aus den Gärten und über den Flieder hinweg erheben sich hohe Apfelbäume, jetzt in zarter Blüte, gewaltige Kirschbäume. Dann kommt die Stelle mit den abgeholzten Bäumen, wo es nach frisch geschlagenem Holz riecht. Geschreddertes in die Kuhlen des Wegs gestreut, es ist ein weicher federnder Boden. Dann treffen sich die beiden Wege und vor dem letzten Haus am Zaun die mit Flatterband umwickelte Bank. Pfützen, auf denen noch Staub schwimmt. Spatzen in den Pfützen. Ich bin keinem Menschen begegnet in den letzten vierzig Minuten. Jetzt ein Stück die Straße entlang, Fahrräder, Autos, eine Brücke. Das Flüsschen ist schneller geworden nach zwei Regennächten, schon ist das Wasser gestiegen. Nun gehe ich auf der anderen Seite des Flüsschens quasi parallel zum Feldweg, dazwischen die Felder und Weiden. Am Fluss stehen uralte Korbweiden, ausgehöhlter schrundiger Stamm, in dem sich Flechten und blaublühende kriechende Pflanzen angesiedelt haben, morsche Hölzer, Weiden, die zum Wasser hin abgekippt sind. Am Ufer lagern Paare. An einer Weide lehnt ein Fahrrad, zum Fluss hin ein Mann, versteckt in einem Kapuzenpullover, die nackten Füße im Gras, ein dickes Buch in den Händen. Ich bin schon ein paar Schritte weiter, da kehre ich um. Entschuldigen Sie, sage ich, und der Mann schaut auf. Würden Sie mir bitte einen Satz aus dem Buch vorlesen? Wissen Sie, sage ich, ich sammel einzelne Sätze, wenn ich so unterwegs bin.

Der Mann blinzelt und macht irgendein Geräusch, das ich nicht deuten kann. Er tippt mit dem Finger auf eine Stelle rechts im aufgeschlagenen Buch: „Ich wartete gedankenlos und stehend eine lange Zeit in dem Gang, an mir vorbei liefen hastig Männer und Frauen in OP-Kleidung, mit seitlich an den Gesichtern herabhängenden Masken.“ Der Mann sagt entschuldigend, es sei eine Geschichte in einem Krankenhaus. Masken… Und zuckt mit den Schultern.

Vielen Dank, sage ich, schönen Tag und schönes Leben.

Nach Titel und Verfasser zu fragen erscheint mir indiskret. Und es interessiert mich auch gar nicht. Das, denke ich zufrieden, werde ich mir zur Gewohnheit machen: Am Wegesrand Geschenke einzusammeln…

Rechts vom Weg erstreckt sich hinter einem Zaun das sogenannte Wiesen- und Naturschutzgebiet, in dem einer Tafel zufolge Schlangen, Eichelhäher, Kraniche, Reiher, Eisvögel und Wasserbüffel zu Hause sind. Ich sehe nichts dergleichen. Die Wasserbüffel sah ich zum letzten Mal vor einem Jahr. Auch die Kraniche und Reiher, die oft schreiend über die Wiesen hinwegfliegen oder am Flussufer entlangstaksen oder wie Regenschirme bewegungslos im Sumpf stecken oder wie ihr eigenes Standbild in den Bäumen hocken, sehe ich ausschließlich außerhalb des Zauns.

Fallengelassen und aufgeklaubt: Eine Großmutter zu einem kleinen Jungen: Du musst die Beine heben, August, du stolperst immerzu. Und deine Schuhe sind ganz dreckig. Mach mal so, trampel-trampel…, trapp-trapp…

Junge Frau mit Hund zu junger Frau mit Rucksack: … Einen Teelöffel voll. Und dann zwei Teelöffel Kurkuma. Das Pulver. Und dann aufgießen mit O-saft…

Junge Frau mit Rucksack: Iih!

Am Ende des Wegs, kurz vor der Brücke, hier steigt der Weg an, versucht eine junge Frau zwei kleine Kinder auf Fahrrad und Laufrad so zu dirigieren, dass keines auf immer verlorengeht. Das Laufrad bleibt zurück, während das Fahrrad bereits den falschen Weg über die Brücke eingeschlagen hat. Geschrei: Nicht da lang, nicht da lang, rechts, rechts!

Gott, ich kenne das; nie hat man so viele Augen und Arme wie nötig.

Durch den Park, das Schlagen von Tennisbällen und Rufe. Durch den Bahnhof zur Kreuzung. Und wieder der Mann im Fenster, rauchend, auf einem Kissen lehnend, inmitten der Abgase, des an- und abschwellenden Lärms, Bremsenkreischen, Hupen, scheppernde Laster…

In der Apotheke kaufe ich zwei Masken für 12 Euro. Sie schützen nicht nur andere Menschen wie meine Stoffmasken, sondern auch mich. Aber es sind Einwegmasken; man kann sie zehn Stunden benutzen, dann müssen sie entsorgt werden. Hier eine Stunde, da eine Stunde. Post. Markt… Anschließend lege ich sie in die Sonne. Zu meinen Handschuhen. Amen.