.13. Hoch auf´m Leben

Plötzlich standen sie im Garten, meine Lieblingsmädchen: Tilly, Suse und Luzie.

Ich wusste von nichts. Zunächst ein Foto von Suse, irgendwo im Freien, weiße Maske. Warum, schrieb ich, eine Maske? Zum Schutz, schrieb sie zurück. Ein weiteres Foto, ein Gartenstuhl, Blumen, die Frage, wo das wohl sei? Ich schrieb: Eindeutig bei mir im Garten. Das Foto muss uralt sein, ich kann mich nicht an diese Blumen erinnern… Neuerlich ein Foto, Garten, Tisch, kein Kommentar. Erst da begriff ich.

Auch wenn wir uns nicht küssten und umarmten, gefühlt, wie es im Neudeutschen heißt, hielten wir uns die ganze Zeit umschlungen. Es war ein heißer Tag, wir hatten beide Sonnenschirme aufgespannt und wanderten von einer schattigen Stelle zur nächsten. Worüber sprachen wir? Alles. Ich weiß es nicht mehr. Ich war nur glücklich. Warum heute? fragte ich Suse. Tilly hatte ihr erzählt, ich hätte kürzlich am Telefon weinen müssen. Da fanden sie, es sei höchste Zeit. Aus Selbstschutzgründen, nehme ich an, hatte ich nie wirklich ausgelotet, wie stark ich die Kinder und die Enkel vermisste. Zwei Tage später saß ich an selber Stelle mit meinem Lieblingssohn. Wir tranken Brennesseltee.

Kammerton C auch im Garten, in Assoziationen, in unseren Gesprächen. Aktuelles, Zahlen, die neuesten Idiotien, die neuesten Witze. Und wir fragten einander, was es denn Schönes zu erzählen gebe. Und ich dachte, wir hätten ein regelmäßiges Zitrone/Orange beibehalten sollen: was war schlimm dieser Tage, was war gut. Man musste schon graben, sich nach nur zwei, drei Tagen der Lichtstücke und Erfreulichkeiten zu besinnen. Und es gibt sie, reichlich, in unser aller Leben. Und ich stelle fest, dass sich meine bevorzugten Sender, rbbKultur und Deutschlandradio Kultur, auch TV, Kulturzeit…  ganz besonders darum bemühen, diese Lichtblicke aufzuspüren, Initiativen, home-Konzerte, Lesungen …Was Leute sich einfallen lassen: Konzerte vor Altenheimen, Essen für Obdachlose… Mir scheint, dass davon zu erfahren ganz unschätzbar Kraft auslöst, Ermutigung, vielleicht auch Fantasie in Gang setzt. Alles, alles, was dazu geeignet ist, aus dem eigenen Kokon, in den uns Corona einschnürt, immer wieder auszubrechen, ist so wertvoll!

 Von Zeit zu Zeit sehe ich mir ein Video an: Emil mit seiner kleinen Gitarre im Arm, haut in die Saiten und singt lauthals Happy-Burthday-to-you. Zum Schluß: Hoch auf´m Leben, hoch auf´m Leben, dreimal hoch! So, wie er es vor einem Jahr verstanden hatte. Wir haben das beibehalten und vermutlich wird er es auf die Art noch ein paar Jahre singen. Und wenn wir uns ermutigen wollen, einander aufrichten und beflügeln, schrein wir durchs Telefon: Und hoch auf´m Leben!

 

Die ersten beiden Monate zu erzählen, von Anfang März, als ich mit Petrine von der Ostsee kam, bis jetzt, wo ich mit meinen Lieblingskindern im Garten saß, ist auch und im Besonderen eine Geschichte der Entfremdung. Das weiß ich erst jetzt.

Nach dem Durchsortieren der Wohnung, der Bücher, nach dem Neubau eines mittelhohen Regals im zweiten Flur und dem Abriss des Riesenregals im ersten, nachdem die große Kommode ausgeräumt, der Küchenschrank an seine alte Stelle zurückgeschoben war, als ich viel Zeit damit verbracht hatte, nach dem idealen Grau als Wandfarbe zu suchen und sie schließlich glaubte gefunden zu haben, nachdem ich sie bestellt und erhalten hatte, und als auch Rollen und entsprechende Halterungen eingetroffen waren und ich dann also nicht mehr 10 Stunden des Tages mit meiner Behausung befasst war, fand ich mich in einem Zustand von Ratlosigkeit, in dem mein kompletter Erneuerungseifer abrupt in sich zusammenfiel.

Während ich das neue Regal baute aus Teilen des alten, freute ich mich darauf, die Bildergalerie zu erneuern, Bilder neu zu rahmen, teils mit neuen Passepartouts zu versehen und aufzuhängen. Als es dann so weit war, dass ich es hätte tun können, war die Freude verflogen. Ich strich an der Bildergalerie vorbei und sie erschien mir fremd. Teile der Wohnung wie nicht zu mir gehörig. Ich bewegte mich in einer Art virtuellem Raum, da gab es vertraute Elemente, aber sie erschienen seltsam losgelöst von meiner alten Wohnung und meinem alten Leben; offenbar hatten sie ihre alten Bedeutungen verloren. Als habe sich die räumliche Erinnerung, die im Hippocampus angesiedelt ist, jenem Teil des Gehirns, der für das episodische Gedächtnis entscheidend ist, aufgelöst. Und etwas Neues an dieser Stelle hat sich noch nicht angesiedelt. Eine Art retrograder Amnesie. Tag für Tag für Tag, die ich weiter lebte und Dinge tat, die ich immer schon getan hatte, nämlich kochen, baden, den Fußboden fegen, den Teppich saugen, mein Bett beziehen, mich zum Schlafen hineinlegen, in meinem Sessel sitzen, Bücher aufschlagen… füllte sich der fremde Raum. Ich füllte ihn auch mit Bach, Schubert und Dinu Lipatti. Ich füllte ihn mit Telefongesprächen und Geräuschen, die aus dem Fernseher kamen. Und Stück für Stück kehrten durch die Wiederholungen meines Körpers Erinnerungen in meinen Geist zurück. Und damit ein Gefühl von Beheimatung. Und tatsächlich habe ich vor kurzem einige Bilder gerahmt und aufgehängt. Ich glaube, dieser Prozess einer lebensnotwendigen Annäherung war begünstigt worden durch das unbedingte Angewiesensein auf Schutz; die Außenwelt, das Draußen waren bedrohlich, und wir sind anpassungsbereit. Und diese bedrohliche Außenwelt war wiederum Ursache und Grund für die Anfang März einsetzende Verlorenheit.

Jetzt habe ich eine Vorstellung davon, wie sich Menschen fühlen, die genau diese Erfahrung machen, aber nicht zurückfinden können in den Schutz von Vertrautem.

Anders verhielt es sich mit dem Garten. Ich glaubte, dass ich am ersten möglichen Tag der Andeutung von Frühling mit der Lupe und auf allen Vieren kriechend den Garten nach den allerersten Zutaten für Kräuterquark – überflutet von Leinöl – durchforsten würde: Giersch, Löwenzahn, Gänseblümchen, Schafgarbe, Pimpinelle, Vogelmiere, Gundermann…. Aber das tat ich nicht. In meinem Geist befand sich ein Bild von mir in einem Bild von meinem Garten. Und die Bilder stimmten nicht mit der Wirklichkeit überein. Ich betete zwar nachdrücklich mir selbst meine Dankbarkeit und die Bestandteile meiner Privilegiertheit herunter, konnte gar nicht genug das Vorhandensein eines Gartens preisen, aber das blieb seltsam trocken, ein Lippenbekenntnis, das mein Inneres nicht erreichte.

Ich erinnere mich, später das eine und das andere Mal unter dem Sonnenschirm gesessen zu haben, die Zeitung oder ein Buch auf den Knien, und mir war traurig und verloren zu Mute. Dann blühten die Tulpen und ich schnitt mir eine für die Vase. Und auch als es wärmer wurde und ich den Balkon von allen vorjährigen verblühten Resten und der alten Erde und dem Kram, der sich unter dem Bett angesammelt hatte, befreit hatte, als ich das Bett mit den gewaschenen und gebügelten Laken herrichtete und sehr zufrieden war meiner Umsicht wegen, als die Kissen bezogen waren, die Töpfe bereitstanden, verspürte ich eine Erleichterung und Befriedigung, als hätte ich eine Aufgabe erledigt, die zu tun für kommende Freuden nötig war. Was auch stimmte. Nur die Freude kam nicht.

Nachdem Luzie und die Töchter gegangen waren, blieb ich noch eine Weile im Garten, ging hierhin und dahin, rupfe hier was, da was und blieb in einem Winkel auf der linken Seite des Gartenhäuschen stehen. In den Holzkisten schwarze knisternde Bohnenranken, mumifizierter zwei Meter hoher Mais, Büschel von harten Gräsern, Sand. Am Zaun ums Überleben kämpfende sich am Boden ringelnde Wicken, hartnäckig um sich greifender Liguster vom Nachbargründstück. Auf dem Pflanztisch drei Töpfe der so wunderblau blühenden Schmucklilie, die ich im Gartenhaus durch den Winter gebracht hatte und die im Frühlingsfrost erfroren sind. Und am Boden Hunderte von Ahornpflanzen und Gräsern und zottligem Irgendwas. In somnambuler Gemächlichkeit begann ich alles Vertrocknete auszureißen, die Wicken hochzubinden, den Liguster und die rote Stachelbeere zu beschneiden. Ich kniete mich auf ein Kissen nieder und riss eins ums andere die Minibäume aus dem Boden. Und am Ende leuchtete an der den Garten begrenzenden hinteren Steinmauer dem Tag zur Ehre scharlachrot die Clematis, breiteten sich Efeu und wilder Wein aus, saß ich davor auf einem Gartenstuhl und war angekommen. Den Töchtern schrieb ich, den Garten hatte ich verloren, es scheint, eure Gegenwart hat einen Bann gebrochen, jetzt hab ich ihn wieder.

Zwischen hier und dort: yonder. Eines jener wunderbaren Wörter, die von den Linguisten Unstete genannt werden, weil sie von jedem mit anderer Bedeutung belegt werden und sich entsprechend bewegen. Und für die es keine deutsche Entsprechung gibt. Yonder zu sein bedeutet, wenn du das Dort erreicht hast, ist es zum Hier geworden. Yonder hilft mir zu verstehen, wie sich Zeiten und Orte bewegen und dass es möglich ist, mit beidem mitzuschwingen. Und dass ich das kann, ist mir zur Zeit tröstlich.