.26. November-Etüden

Wenn ich mir ein Haus bin, so war ich in letzter Zeit oft abwesend, ausgegangen, wohin?

Meine Seelenheimat, sagt Bella, Johannes war meine Seelenheimat.

Es ist sehr gut denkbar, daß die Herrlichkeit des Lebens um jeden und immer in ihrer ganzen Fülle bereit liegt, aber verhängt, in der Tiefe, unsichtbar, sehr weit. Aber sie liegt dort, nicht feindselig, nicht widerwillig, nicht taub. Ruft man sie beim richtigen Wort, beim richtigen Namen, dann kommt sie. Das ist das Wesen der Zauberei, die nicht schafft, sondern ruft. (Franz Kafka, Tagebücher 1921)



1. Neue Melodien

Ende September roch das Laub noch warm und süßlich, jetzt, im November, herb und sauer mit einem Schuss Wehmut. Im Park knallt mir eine Kastanie auf den Kopf. Dem Schmerz nach zu urteilen aus großer Höhe. Irgendeine Erweckung hatte das nicht zur Folge.

Wenn ich zu laufen beginne, pflanze ich mir oftmals eine Frage ins Gehirn, und während ich meine Stöcke schleudere und gucke und rieche und höre, stürmt ein kleiner Läufer in meinem Kopf durch sämtliche Gänge, rempelt Synapsen, tritt diesen und jenen Lappen, streift durch Kortexareale und plündert den Hippocampus. Am Ende, könnte man sagen, hat der kleine Läufer in meinem Gehirn das Rennen gewonnen und präsentiert mir eine Antwort, einen ersten Satz, ein Wort. Oder die einzig gültige Frage zu einer in der Peripherie schwebenden Irritation, einen plötzlichen Blick in Hinterräume und Kellergewölbe meines Wesens. Und das alles, während ich ganz und gar mit Anderem beschäftigt bin, den Bibern, den Graureihern, Corona, einem verstopften Ausguss, den Idioten über mir… Ich bin von diesen inneren Prozessen, die anscheinend ganz ohne mein Zutun ablaufen, immer wieder fasziniert-erstaunt und beglückt. Zwei Stunden laufen, in denen ich aus Erinnerungsfäden, Assoziationen, Beobachtungen und jenen aus den Ritzen des Gehirns stammenden Strippen ein Tuch webe…

Immer öfter erinnere ich mich nicht auf Anhieb an einen Begriff; dieser begriffliche Hohlraum schwebt dann eine Weile wie ein Ballon in mir herum und steigt in meinem Bewusstsein auf und nieder. Aber immer ist unumstößlich klar, dass ich das, was mir nicht einfällt, einmal gewusst habe.

Kürzlich sah ich im TV einen alten Herrn, Professor für irgendwas, der, glaube ich, als Erster bei Günther Jauch die Million abgeräumt hat. Das ist einige Jahre her und der Professor ist darüber alt geworden. Und sagte also mehrmals: Das habe ich mal gewusst. Es klang irritiert, verzweifelt, eine anrührende flehentlich vorgebrachte Beschwörung der eigenen Fähigkeiten und der eigenen Glaubwürdigkeit.

Unsere Köpfe, lieber Alter, sind vollgestopft mit Wissen, aber die Gänge zu diesen Wissenskammern sind verstellt, zugerümpelt, auf immer zugeschüttet oder vorübergehend verstopft. Aber tröste dich, auch das ist nicht in Stein gemeißelt, und wenn du am wenigsten daran denkst, erscheint wie ein Komet am Himmel die Antwort auf eine längst vergessene Frage…

Kanarienvögel und Zebrafinken beenden ihren Gesang im Herbst und beginnen ihn erst wieder im nächsten Frühjahr. Dann aber mit einer vollkommen neuen Melodie. Die Vögel sind kreativ, sie bilden Jahr für Jahr neue Tonfolgen aus. Genetisch vorprogrammiert können die Melodiemuster nicht sein, sonst käme es nicht zu immer neuen Kompositionen. Auch orientieren sich die Vögel nicht an anderen Vorbildern, denn alle fangen im Frühjahr wieder bei Null an. In ihnen selbst geht etwas Erstaunliches vor: im Herbst sterben Gehirnzellen ab, und zwar die, die mit der Speicherung der bisherigen Lieder befasst waren, und im Frühjahr bilden sich genau dort neue Zellen aus.

Noch bis Anfang der 90er Jahre ging die Wissenschaft davon aus, beim ausgewachsenen Menschen sei eine Zellenneubildung, die mit dem zentralen Nervensystem zusammenhängt, nicht mehr möglich. Aber genau das geschieht.

Also leben wir, trainieren, lesen … wir sind neugierig und interessieren uns, und sorgen damit auch dafür, dass eine Neurogenese, die Neubildung von Nervenzellen stattfinden kann. Natürlich ist das Reservoir nicht unendlich, irgendwann ist der Brunnen erschöpft, aber bis dahin…

singen wir neue Melodien.



2. Als das Wünschen noch geholfen hat

In den alten Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat… So beginnt das Märchen vom Froschkönig. Wenn über den zwischen den Türflügeln im Gartenhäuschen aufgespannten Laken die Großmutterpuppe erscheint (große Brille, Hütchen) und diese Worte sagt, erfüllt mich (große Brille, Hütchen) stille Ehrfurcht und stilles Entzücken.

Unterhalb der Vorhänge sitzt in seinem kleinen Korbstuhl Emil, Luzie in ihrem daneben, auch sie beide in stillem Entzücken.

Wann das wohl gewesen ist? In vorparadiesischen Zeiten? In den wunschlosen paradiesischen Vor-Corona-Zeiten? In den die frühe Kindheit umfassenden Areale?

Am Abend – noch ist später Sommer –  liege ich in meinem Balkonbett, und während sich der Himmel purpurn färbt, schiebe ich meine kalten Arme unter die Decke und für einen kurzen Moment bin ich ganz erfüllt von einem uralten aus der Kindheit stammenden Gefühl einer vollkommenen Behaglichkeit, eines Glücks, einer Übereinstimmung von allem, Zeit, Raum, Ich, Welt…

Die Wortwurzel wunskien bedeutet sowohl streben als auch lieben, wünschen – zugehörig sind im Laufe der Zeit auch Wahn, wohnen, gewöhnen, Wonne, gewinnen…

Wunsch bezeichnet den Inbegriff alles Vollkommenen und Außerordentlichen, bezeichnet in subjektiver Bedeutung das Begehren, Verlangen, die Vorstellung des Begehrten, und zwar in dem Sinne, dass die Befriedigung des Verlangten nicht von dem Bemühen dessen abhängt, der es empfindet oder äußert – also eine Form der Bitte.

Das Gegenteil: Die Verwünschung.

Eine Zeitlang lasen die Töchter und ich einen Blog mit dem Titel Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten. Mich rührte die subjektive Wahrheit dieser grotesken Überspitzung. (Karlsson vom Dach – der beste Karlsson der Welt, der klügste, der schönste, ein Mann in seinen besten Jahren…)

Picasso sagt, man brauche das ganze Leben, um dahin zurückzukehren, wo man als Kind begonnen hat.  Ich begreife, was er meint: eine ungefilterte  reine in vollkommener Subjektivität stattfindende Aufnahme aller Eindrücke, ein ungehemmtes Empfinden… Es gibt Momente, da ich mir diesen Zustand – in Ansätzen – imaginieren kann. Es sind Sekunden, flüchtig, fragil, die mir einen kurzen Blick in mich zurück gestatten, in eine der kleinsten inneren Matroschkas.

Warum ich just den Froschkönig als das Sommerstück dieses Jahres auswählte, weiß ich nicht. Aber auch so etwas geschieht ja nicht ohne Grund. Vielleicht ist es untergründig die Sehnsucht nach diesen uralten Zeiten, den Vor-Corona-Zeiten, die nun, im Augenblick einer Umwälzung aller trügerischen Sicherheiten wie etwas endgültig Verlorenes erscheinen…

Derzeit verändert sich sowieso alles Zeit-Gefühl und seine, der Zeit, Bedeutung: Schon der Sommer mit seiner sonnenüberfluteten Freiheit erscheint mir jetzt, da Zukunft so unübersichtlich und unfassbar auf kurze Spannen zusammenschnurrt, wie lang her: In den alten Zeiten, als wir zwischen Gras und Himmel mit goldenen Kugeln spielten…



3. Anatomie der Ruhelosigkeit

Das größtmögliche Maß an Freiheit: des Nachts herumzuwandeln, mit diesem oder jenem befasst, einen Tee kochen, Bücher bereitlegen, am Schreibtisch zu sitzen, Gedichte zu lesen, wieder unter die Decken zu kriechen, alles so unbeschwert, als gäbe es kein Morgen. Und wirklich: es  gibt ihn nicht; nichts als stillstehende Zeit, ausgesetzte Beziehungsgeflechte, nur ich in meinem Kokon. Ein Morgen, der zu einer festen Uhrzeit beginnt und einen augenblicks in ein Korsett von Notwendigkeiten und Gegebenheiten zwingt, in weiter Ferne. Und wenn er dann da ist, ignoriere ich ihn größtmöglich, ziehe die Unbeschwertheit in die Länge, bis das Telefon klingelt oder der Briefträger oder unvermeidbar eingekauft werden muss. Alles so banal, überhaupt keines Aufhebens wert, unwichtig, nebensächlich… Ich weiß, sage ich grimmig zu mir, dennoch: jede Minute zählt, jede Minute hat Gewicht, in der ich losgelöst von all diesen Zivilisationsdingen bei mir sein kann. Höchstwahrscheinlich ist das ja überhaupt eine Konstruktion, ein Konstrukt, eine künstliche Unterteilung von Höherem und Niederem, und in Wirklichkeit zählt nur, immer und alles aus seiner Mitte heraus und in diesem Moment zu tun… Und die Tatsache, dass es nicht gelingt.

Die Gewissheit, dass das Haus schläft, sich in einem Zustand der Bewusstlosigkeit befindet und damit aus meinem Bewusstsein ausgeschaltet ist. Und ich fühle mich, als würde sich gleich, und eben nur dann, mein Geist ausbreiten können, über die schrecklichen Nachbarn hinweg, die in diesen Stunden nicht existent sind, über alle banalen oder herzabschnürenden Widrigkeiten hinweg, die sich einem auf der Haut ansammeln wie Staub und Bakterien. Werde ich morgigen Tags müde sein? Wahrscheinlich. Egal.

Ich kann diese nächtlichen Stunden nicht herbeizwingen, wenn sie da sind, sind sie da. Und ich hadere nicht. Schlaflos? Wunderbar. Angewiesen aber bin ich darauf nicht; auch um fünf Uhr früh ist die Welt noch ausgeknipst…

Um mich herum im Bett das übliche Zeug: Ich schlafe auf Büchern, Notizheften, Papierfetzen. Im Kreuz habe ich Bleistifte, Radiergummi, Bleianspitzer und Brillen.  Im Schlaf atme ich Zettel ein. Mein Bett ist voller kleiner Dinge, die mir aufs Ohr drücken und bis zu den Füßen rutschen. Im Tiefsten unbegreiflich, warum neben den Notizheften immer noch Unmengen verschieden großer Zettel herumfliegen. Im Bett, in Büchern, auf den Tischen, Regalen…

Ich bin der weltgrößte anzunehmende Bleistiftfreak, ich besitze sie von 6 H bis B 8,  von Rembrandt, Koh-I-noor und Faber. Ich habe sie in der Küche, auf den Arbeitstischen, in Dosen und Gläsern, ich finde sie überall, im Bad, im Flur, in den Bücherregalen, im Bett, in den Taschen. Manchmal im Kühlschrank. Dennoch bin ich ständig auf der Suche. Sie verschwinden. Hatte ich gestern zwanzig, sind es heute noch acht.

Das Zeug in meinem Bett wird an den meisten Tagen morgens eingesammelt, wenn das Bettzeug auf mein Balkonbett oder in den Schrank kommt, findet sich aber für die Nacht von ganz allein wieder ein, Stück für Stück.

Auf den Zetteln und in den Notizbüchern Zeichnungen, Skizzen, Gekrakel, feine Linien, Schattierungen, die die Worte umkreisen und einrahmen, Erinnerungen, Zitate, Gehörtes, Geträumtes, Gelesenes…

Diese kostbaren intensiven Nachtstunden, die ich so ganz und gar für mich allein zubringe, sind mir die von allen Lebenszeiten am wenigsten einsamen.

Das ganze Unglück der Menschen rühre aus einem einzigen Umstand, nämlich, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer bleiben können, sagt Blaise Pascal, der verschlossene Philosoph, der berühmteste aller Stubenhocker. So las ich kürzlich. Dieses – allerdings stark verkürzte Fragment 136/139 – wird gerade wieder zum philosophischen Kernsatz eines in Aussicht stehenden erneuten Lockdown. Und dazu passend: La grande maladie de l´horreur du domicile von Baudelaire.



Fußnoten zur Zeitbeschreibung.

Ein Gedicht von Celan zum Schluß, weil heute der 23. November ist und damit der einhundertste Geburtstag von Celan.

Es ist Zeit, dass man weiß!

Es ist Zeit, dass der Stein sich zu blühen bequemt,

dass der Unrast ein Herz schlägt.

Es ist Zeit, dass es Zeit wird.

Es ist Zeit.