Die Ost Berliner Autorin Franziska Groszer verschenkte 1975 ein Ferkel namens Erich. Das Ministerium für Staatssicherheit war darüber entsetzt – aber machtlos.
Berlin, im Oktober. Eines der schlimmsten Vergehen, dessen man sich in der DDR schuldig machen konnte, war zweifelsohne staatsfeindlicher Menschenhandel, Paragraph 105 des Strafgesetzbuchs. Schenkt man damaligen Zeitungsberichten Glauben, solchen aus dem Teil Berlins, der schon immer Hauptstadt war, so machten die Agenten der Bonner Ultras allzu oft sozialistische Fachkräfte und Spezialisten mit Rauschgift und Alkohol gefügig, um diese dann wohin auch immer zu schaffen. Doch wie verhält es sich mit staatsfeindlichem Tierhandel? In dieser Hinsicht wies das Rechtssystem im Arbeiter-und-Bauern-Staat Lücken auf, wie beim Studium bestimmter Akten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) deutlich wird. Im operativen Vorgang Atelier aus dem Jahr 1975 erzählt ein inoffizieller Mitarbeiter (IM) eine etwas verworrene Geschichte, in der die Schriftstellerin Franziska Groszer ein Schwein namens Erich verschenkte.
Doch von vorn: Der Überlieferung nach hatte ihre Freundin Monika Palm zum Geburtstag ein lebendiges Ferkel bekommen, das sie, weil sie vorübergehend bei Franziska Groszer wohnte, mit in die Wohnung brachte.
Groszer habe dem Tier sofort einen Namen gegeben. „Das ist doch Erich“, erinnert sie sich heute, „keine Ahnung, wie ich darauf gekommen bin.“
Im Literaturbetrieb ist Franziska Groszer keine Unbekannte; für Rotz und Wasser bekam sie, nachdem sie in den Westen gegangen war, 1987 den Erich Kästner Kinder- und Jugendbuchpreis. Weitere Bücher und Auszeichnungen folgten. Eigentlich heißt sie Franziska Großer. Das Künstler-SZ hat sie sich in Anlehnung an ihre Schwiegermutter Lucie Groszer zugelegt, die in der DDR eine erfolgreiche Kinderbuch-Verlegerin war und das bei der Schreibweise in Versalien entstehende SS vermeiden wollte. Heute lebt und arbeitet Franziska Groszer in Berlin Mitte.
Doch zurück zu Erich: Wie jeder Mann weiß, werden Tiere mit Namen nicht geschlachtet und schon gar nicht gegessen. Eine Riesenschweinerei sei das gewesen. Der junge Eber, oder war es eine Bache, auf solche Nebensächlichkeiten habe sie nicht geachtet (eigentlich war Erich ja eine kleine Sau, so wie der unsere Wohnung zugerichtet hat), war eine Retourkutsche: Monika Palm hatte dem Kind einer Bekannten ein Meerschweinchen geschenkt, worüber die Eltern nicht gerade erfreut waren – und sich mit einem richtigen Schwein revanchierten. Und was nun? Wohin mit Erich? Franziska Groszer, deren Wohnraum arg in Mitleidenschaft gezogen worden war, kam die Idee: Das Schwein gehört zu den Schweinen. Konkret: ins Hochhaus am Leninplatz, in dem angeblich nur Bonzen und Bullen wohnten und sicher auch Leute von der Stasi. In den erhalten gebliebenen MfS-Akten gewinnt die Geschichte nach und nach Kontur. Demnach suchte eine Gruppe von vier jungen Leuten ein Hochhaus am Leninplatz auf, blockierte nach Verlassen des Fahrstuhls die Rufanlage und klingelte wahllos an einer Wohnungstür. Nachdem eine unbekannte weibliche Person geöffnet hatte, rief Franziska Groszer: „Sie haben gewonnen! Sie haben gewonnen!“ Daraufhin stopfte sie ihr einen Strauß Blumen in den Arm, übergab ihr ein Begleitschreiben und hängte ihr eine Plakette mit Schweinskopfprägung („Das Beste für die Besten“) samt schwarz-rot-goldener Kordel um den Hals. Mit den Worten „Hier unser kleines Präsent!“ wurde das Ferkel dann über die Türschwelle geschoben, worauf es in Richtung Wohnzimmer verschwand.
„Erich wird sich schnell an Sie gewöhnen“, konnte die Dame in dem Zehnpunkte-Schreiben lesen. „Bitte tun Sie, was in Ihren Kräften steht, Erich fühlen zu lassen, dass er als ein echter Freund in Ihrer Familie willkommen ist. Was Sie über Erich wissen müssen:
- Erich ist ein Schwein.
- Schweine zählen zu den 10 intelligentesten Tierarten.
- Benutzen Sie in Erichs Gegenwart nie das Schimpfwort Schwein.
- Erich ist 5 Wochen alt und, wie Sie bemerkt haben, noch etwas klein. Aber sorgen Sie sich nicht: Schon in zwei Monaten wird er Ihrer Badewanne entwachsen sein. Es liegt bei Ihnen, ihm dann einen angemessenen Auslauf zur Verfügung zu stellen.
- Denken Sie daran: Auch Schweine darf man nicht enttäuschen.
- Erich frisst Weißbrot und Milch. Etwa 10 Mal am Tage. Auch 14 Mal ist nicht zu viel. Geben Sie auf gar keinen Fall Schwarzbrot. Das verträgt er nicht.
- Es empfiehlt sich, Erich mit Kalktabletten und Vitamintropfen zu versorgen.
- Dank Ihrer liebevollen Pflege und zärtlicher Fürsorge wird Erich sich bald bei Ihnen heimisch fühlen und dies auf seine schweinische Art bekunden.
- Bevor Sie Erich auf den Balkon führen, versäumen Sie nicht, Graham Greenes Geschichte Ein peinlicher Unfall zu lesen.
- Besorgen Sie sich alsbald die Schrift Das gemeine Hausschwein, denn um ein solches wird es sich bei Erich in etwa einem halben Jahr handeln.
Und nun: Viel Spaß mit Erich!
P.S. Bitte werfen Sie morgen einen Blick in die Berliner Zeitung.“
Im Opoerativen Vorgang „Atelier“ heißt es weiter: „Anschließend begaben sich die an diesem Vorkommnis beteiligten Personen zu dem Cafe´ Burger an der Wilhelm-Pieck-Straße, bei dem es sich um das Stammlokal von Franziska Großer und ihres umfangreichen Bekanntenkreises handelt.“
Strafe muss sein, so die einhellige Meinung der Tschekisten. Doch gegen welches Gesetz war eigentlich verstoßen worden? Selbst in der DDR war ja das Verschenken lebendiger Ferkel nicht unter Strafe gestellt, egal welchen Namen diese auch trugen. Und „Hetze?“ Das DDR-Strafgesetzbuch bot da bekanntermaßen einigen Spielraum, nur hatte die Sache einen Haken: Wie aus einem MfS-Gutachten der Abteilung IX vom 7. Juli 1975 hervorgeht, musste im Zuge der Beweisführung damit gerechnet werden, dass der Inoffizielle Mitarbeiter dekonspiriert würde. (Sehr unangenehm, zumal es sich um Franziska Groszers beste Freundin handelte.) Erschwerend hinzu käme, dass die betroffene Bürgerin (die Dame im Hochhaus) nicht in der Lage sei, konkrete Angaben zu den Motiven der Täter zu machen. Daher seien „weder die objektiven noch die subjektiven Voraussetzungen für die Erfüllung des Tatbestandes der staatsfeindlichen Hetze gemäß § 106 oder der Staatsverleumdung gemäß § 220 StGB gegeben.“ Die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens sei daher nicht möglich.
Eine Hoffnung aber blieb: Die Handlungen stellten eine Ordnungswidrigkeit dar, im Sinne des § 4 „Störung des sozialistischen Zusammenlebens“. In der Verordnung über Ordnungswidrigkeiten vom 16. Mai 1968 war unter Absatz 1 „die ungebührliche Belästigung von Bürgern“ unter Strafe gestellt, jedoch nur mit bis zu 300 Mark pro Person. Das war selbst der Stasi zu billig.
Und Erich, das Schwein? In der entsprechenden Akte heißt es über den Abend nach der Tat: „… da die Aufnahme der Anzeige sowie die Entgegennahme des lebenden Ferkels von dem Wachhabenden des VP-Reviers abgelehnt wurde, warf die Zeugin die Plakette nach Verlassen des Reviers auf der Straße weg und begab sich anschließend zum Volkspark Friedrichshain, wo sie das Ferkel aussetzte.“
Die Freiheit aber währte nicht lange. Längst war Erich, das Schwein, Thema an allen Stammtischen. Dem musste Einhalt geboten werden. Von wegen Stadtluft macht frei: Erich wurde von der Stasi gehetzt, gefangen und dem Stall einer Genossenschaft außerhalb Berlins zugeführt. Über sein weiteres Schicksal liegen keine Kenntnisse vor.