Im Aufwachen hatte ich die backsteinrote Casa Verdi in der City von Mailand vor Augen und im Sinn. Wie das? Warum? Höchst simpel vermutlich: Virus, Italien, Mailand… Corona – eine neue Grundierung in meinem Leben, Corona-Einfärbungen, alles auf Kammerton C eingestimmt.
Aber wohl doch nicht nur das, sondern auch die Generosität, der Geist der Mitmenschlichkeit, der Teilhabe, die dieser Einrichtung zugrunde liegen: Casa di Riposo per Musicisti, genannt Casa Verdi, ist ein Seniorenheim, das Verdi Ende des 19. Jahrhunderts in Auftrag gegeben hat und dem er erschüttert von den tragischen Schicksalen einst gefeierter Opernstars, die ihren Lebensabend in bitterster Armut verbringen mussten, die Rechte an allen seinen Werken übertrug. Entstanden ist eine üppige schlossähnliche neugotische Villa mit angrenzendem Garten und einer in herrlichen Mosaiken ausgekleideten Krypta, in der Verdi und seine Frau Guiseppina Strepponi begraben sind.
Verdi selbst legte die Aufnahmebedingungen für die Gäste fest: Italienische Staatsangehörigkeit, Erreichung des 65. Lebensjahrs nach mindenstens 20 Jahren aktiver Tätigkeit im öffentlichen Musikleben und nachweisbare Armut. Ein Gremium wählt heute Künstler aus, die nach einer glanzvollen Karriere hilflos vor einem dunklen Lebensabend stehen.
Ich fragte mich, wie es den alten Sängerinnen und Dirigenten und Geigerinnen und Tenören dort in Mailand wohl derzeit ergehen mag. Es ist mehr als dreißig Jahre her, dass ich einmal vor diesem Haus stand, mich an die Bilder eines Films erinnernd: Greise Sängerinnen, zittrige Arien, in Samt gewandete Geiger, Flügel in jedem Raum, Gemälde von allen Großen des Musiklebens an den Wänden, viel Stolz, viel hochgerecktes Kinn, viel Robe und Schminke und Schönheit. Die Schönheit des Alters, wenn Stimme, Augen, Gesten eine Lust am Dasein und am Miteinandersein beschreiben. Konkurrenz ja, Einsamkeit nicht. Die Luft schien zu schwirren von vergangenen Triumphen… Und mir schien weniger Trauer über verschwundene Fähigkeiten und den Verlust der Jugend in ihrem Gebahren zu liegen als eine tiefe Zufriedenheit über Vollbrachtes. Auch wenn hin und wieder, beim einen mehr, beim anderen weniger sichtbar etwas wie ein scharfer Schmerz der Erkenntnis aufblitzte, eine unmittelbare Fassungslosigkeit: Was, wirklich auf immer vorbei?
Und dann neigen sie sich wieder ihrem unerschöpflichen Brunnen zu, den Noten, den Instrumenten, den Stimmen, den Tönen, den Chorälen, Melodien, Arien, Tänzen….
Und was weiß man schon wirklich von den Nächten und Träumen und Tränen…
Ich erinnere mich nicht, ob die Casa damals Besuchern offenstand. Heute nachgeschaut finde ich als einzigen aktuellen Eintrag ein Update zu Covid-19/Mailand: Sehenswürdigkeiten sind u.U. ganz oder teilweise geschlossen, um die Verbreitung des Coronavirus einzudämmen.
Ich empfehle den wunderbaren Film von Daniel Schmidt: Il Bacio di Tosca (Der Kuss der Tosca) aus dem Jahr 1984. Bei Youtube kann man den Trailer und Ausschnitte sehen.
(Der Kammerton A mit einer Frequenz von 440 Hertz ist übrigens erst seit einer internationalen Konferenz in London 1939 als gültiger Standard-Kammerton oder Normalstimmton festgelegt. Verdi soll als Ideal 430 Hertz vorgeschwebt haben.)
Einer der alten Herren, die Zuflucht in der Casa Verdi gefunden hatten, erzählte gestenreich und in einem ungemein schnellen Italienisch von seinem Alltag in der Casa. Für mich, sagte er, und Tränen standen in seinen Augen, für mich und uns alle hier, er breitete die Arme aus, ist dieser Ort das Paradies, il Paradiso.
Solche Paradiese ersehnen wir uns fürs Alter. Und gibt es nicht für uns, sagte Emmi. Und vielleicht sonst nirgendwo.
Menschen mit viel Geld mögen elegante Residenzen beziehen, mögen gut versorgt sein, aber finden sie damit auch würdige lebendige Orte? Und mag nicht in manch einem durchschnittlichen Altenheim mit viel Engagement und Liebe und Erfindungsgeist etwas zum Wohle und zur Zufriedenheit alter Menschen erreicht sein, das beispielhaft sein könnte? Ich erinnere mich an Bilder von trostlosen Orten, stumpfem Vorsichhinstarren, tätiger Menschenverachtung und Skandalen ebenso wie an die tätiger Nächstenliebe, Fürsorglichkeit, fantasievoller Alltagsgestaltung in einer Aura aus Respekt und Verstehen.
Wenn wir in meiner kleinen Hospizgruppe zur monatlichen Supervision zusammenkommen und Bettina von ihrer Arbeit mit Menschen in unterschiedlichen Stadien von Demenz erzählt, sind wir gleichermaßen von Gelächter geschüttelt wie in Tränen gefangen. Und das liegt an ihr, Bettina, die ihren Alten zugetan ist wie den eigenen Eltern und Kindern in einem. Rutschende Windeln, verkleckerte Essen, die wiederholten Fragen nach Zeit oder Ort oder dem nächsten Film im Kino, die unaufhörliche Suche nach der verlorenen Zeit oder der empörte Ausruf einer Frau: Was, dieser Kerl soll mein Mann sein? So ist das Leben, sagt sie. Jedenfalls solange es währt.
Alles, aber niemals Heim, sagte Helga oft, je kränker sie wurde. Und nahm die Tyrannei und unerträgliche Präsenz einer Mitbewohnerin in Kauf, die am Ende Helgas letzte Gedichte fertig schrieb.
Einmal, als Helga Ende der 70er oder Anfang der 80er Jahre in der Eisenbahnstraße wohnte, fand ich an ihrer Wohnungstür wie in den telefonlosen Ostzeiten einen Zettel: Bitte stark klopfen, ich bin tot! Ich klopfte stark und Helga öffnete. Ich wies auf den Zettel: Kann der weg oder soll der für morgen bleiben? Der bleibt natürlich, sagte Helga. Du kannst stark klopfen durchstreichen.
Alles, alles, aber niemals Heim, niemals Uchte, sagte meine Großmutter. Das sagte sie schon lange, bevor sie wirklich alt war. Erst Jahre Jahre später begriff ich, woraus ihre Angst, ihr Abscheu, ihr Entsetzen erwachsen war: aus einem Gemisch von jahrzehntelangem Geraune und hinter vorgehaltener Hand weitergetuschelter Geschichten über die Alten, die in die Geschlossene gekommen waren. Von Selbstmorden. Von Tötungen… Alles, nur nicht nach Uchte. Konkretes wusste sie nicht zu berichten, und zwar mit einem Gesichtsausdruck, als ginge allein das, was sie nur so ungefähr wusste, auszusprechen, schon über ihre Kraft und war allzu entsetzlich.
Uchtspringe war eine Anstalt, eine psychiatrische Einrichtung, in die schon unter Hitler, dann unter Ulbricht und bis zum Ende der DDR unbequeme Mitbürger, „verwirrte“ Alte eingeliefert und verwahrt wurden. Ab 1940 diente die Einrichtung als „Zwischenanstalt“ der Aktion T4 für die Tötungsanstalten Brandenburg und Bernburg. Zudem bestand eine Kinderfachabteilung zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden mit drei Tötungsärzten seit Juni 1941. Dass in der Klinik 350 Kinder und fast 2.000 Erwachsene im Rahmen der NS-Euthanasie getötet worden sind, findet man in der heutigen Selbstdarstellung der Klinik nicht.
Meine Großmutter ist nach kurzer Krankheit im Krankenhaus Friedrichshain gestorben. Sie war zum ersten Mal in ihrem Leben in einem Krankenhaus. Wenn ich sie mit den kleinen Urenkelkindern besuchte, die still und mit großen Augen an ihrem Bett standen, beklagte sie sich bitter darüber, dass sie so viel Umstände machte. Aber Omi, du bist krank, hier hast du Pflege, Ärzte… Aber nein, sie war untröstlich. Sie konnte sich nicht damit abfinden, hilflos, ausgeliefert, abhängig in einem langweiligen Krankenhausbett ihre Zeit zu vertun und anderen Menschen zur Last zu fallen. Selbst, dass ich sie besuchte, war ihr nicht recht; sie drängte, du hast doch anderes zu tun, die Kinder…
Ach, il Paradiso für alle! Omi, ich wünschte so sehr, du hättest einen Zipfel davon erwischt…