Wie gesagt, die Tage könnten Montag oder Friedhelm heißen, es ist einerlei. Aber heute ist Sonntag. Und der Sonntag hat seine feierliche Besonderheit und seine Bedeutung als eine der wenigen Konstanten im neuen Leben behalten. Und gleich früh ein Sonntagsgruß von Micha und Bach. Mit Bach und Angela Hewitt am Morgen haben meine ersten drei Wochen der Abgeschirmtheit begonnen, und es ist nicht schwer zu beschreiben, was das ist, das mich so beglückt hat; es ist ein Versprechen in die Zukunft: Freundschaft, Zuversicht und nie versiegende Lebensfülle. Also wieder und wieder danke, Micha, für dieses Geschenk einer doppelten Gewissheit, das mich in den frühen kostbaren rosa Morgenstunden erreicht, in denen die Welt stillhält und mich in einen auch körperlich als Einsinken in Zeit und Raum empfundenen Zustand versetzt.
Im März vor zwei Jahren titelte die Zeit: Eine Passion namens Bach. Ich habe mir die vier Seiten aufbewahrt; sie künden von der Vergeblichkeit, Musik zu beschreiben, eine einzige Reflexion über die Sterblichkeit, Schuld, Verstrickung, Vergänglichkeit. Bachs Werke sind voller Leid, Mitgefühl und Hoffnung. Wer über Bach spricht, spricht mit Ehrfurcht. Beethoven sagte, nicht Bach, Meer sollte er heißen. Am Schönsten auf diesen vier Seiten sind die Fotos von Menschen, die in einem Augenblick entstanden sind, da sie sich ganz und gar innerhalb der Musik befinden, ihre Gesichter von Hingabe und Entzücken ebenso wie von einer schmerzlichen Andacht gezeichnet.
Im Gehirn existieren zwar Sprachzentren, aber kein Musikzentrum. Die Musik jagt durch das Cerebellum und das limbische System, durch die Regionen, in denen tiefe, soziale, urzeitliche abstrakte Gefühle sitzen. Das Gehirn beginnt an den unterschiedlichsten Stellen zu leuchten und zu funken. Die Musik bewegt uns dermaßen in den Tiefen unseres Wesens, dass uns die Worte fehlen. Das gefällt mir. Es gefällt mir, dass es Bereiche gibt, für die eine Übersetzung in Sprache nicht gilt.
Der Flieder am Feldweg verblüht, und im Verblühen wie in einem letzten Ausatmen duftet er noch einmal besonders betörend. Wie jeden Tag zieht die krebskranke Frau im Guolin-Gang, den ich von Emmi kenne, ihrer Wege, in diesem besonderen von Pausen und Schrittfolgen und Armbewegungen geprägten Rhythmus. Und wie bei jedem anderen Mal würde ich sie gerne grüßen oder ihr etwas Freundliches zurufen; aber ich wage es nicht. Wie jeden Tag sind die verzweifelten Jogger unterwegs, in sich gekehrte Spaziergänger, Familien auf Fahrrädern, Paare in der Umarmung, junge wortreiche Frauen mit vielen Ausrufezeichen in ihren Sätzen. Und wie an jedem anderen Tag treffe ich über lange Strecken keine einzige Menschenseele.
Es scheint so, aber ist es eben ganz und gar nicht: wie immer. Ich weiß wirklich nicht, woran es liegt, dass der Sonntag als ein Sonntag erkennbar ist. Tatsächlich liegt eine gewisse Feierlichkeit in der Luft, ein Innehalten, ein gelöstes Ein- und Ausatmen. Aber vielleicht liegt das nicht nur in der Luft, sondern in uns selbst, als über Generationen in uns verankerter Fixpunkt, mit dem wir selbst die Luft mit Sonntäglichkeit aufgeladen haben. Aufgeladen mit unseren persönlichen Sonntagen, die gewoben sind aus den Sonntagsritualen und den Sonntagsdingen unserer Kindheit. Und plötzlich aus der Ferne wie zur Bekräftigung Glockengeläut. Sonne, ein freundlicher Wind und ein aus vielen Vogelstimmen zusammengesetzter Sonntagschoral: Auf, auf, mein Herz, und du, mein ganzer Sinn, wirf alles das, was Welt ist, von dir hin…
Sechs Tage sollst du deine Arbeit tun; aber des siebten Tages sollst du feiern, auf dass dein Ochs und Esel ruhen und deiner Magd Sohn und der Fremdling sich erquicken (Luther, Buch Moses).
Heute ist Sonntag. Offenbar haben Menschen unabhängig voneinander (ja, eben!) beschlossen, gewisse Sonntagsrituale aus ihren familieneigenen Dachböden und Kellern zu bergen, backen Sonntagskuchen, begeben sich auf Sonntagsspaziergänge, setzen sich an den Mittagstisch zum Sonntagsbraten oder erfinden Neues, das vielleicht wert ist, beibehalten zu werden. Es macht durchaus einen Unterschied, ob etwas, für das sich unter der Woche kein Platz findet, in den Sonntag geschoben wird, oder ob dieser Tag selbst mithilfe von Ritualen und kleinen Gewohnheiten und Ausnahmen gefeiert wird.
Heute sind viele Menschen durch Corona, eine veränderte Arbeitssituation usw. in einen Zustand von Innehalten versetzt, auch Entschleunigung geheißen. Selbst Familien, in denen aufgrund von Homeschooling, Kitaschließung und einem unablässigen Miteinander die Nerven blank liegen, erleben diese Zeit auch als einen besonderen neuen Raum, der sich anfüllt mit neuem individuellen Erleben und einer Erfahrung von ungeahnter Innigkeit und Zuwendung. Natürlich, das wissen wir auch, ist in der Familiengeschichte kein anderer Tag so von einer Sprengdynamik geprägt wie der Sonntag. Was das Aufbrechen von Familienzwistigkeiten betrifft, kommt er gleich nach Weihnachten.
Freiheit ist anstrengend, sagt Fichte. Es hängt von euch ab, ob ihr das Ende sein wollt oder der Anfang.
In seinem Essay Der starke Grund zusammen zu sein, spricht Sloterdijk von unserer Gesellschaft als von einer Stressgemeinschaft. Die Nation sei ein hysterisches und panisches Informationssystem, das ständig sich selbst erregen, sich selbst stressieren, ja sogar sich selbst terrorisieren und in Panik versetzen muss, um sich selbst zu beeindrucken und um sich, als in sich selber schwingender Stress-Gemeinschaft, davon zu überzeugen, dass es sie wirklich gibt.
Und jetzt können wir sehen, wie in großen Teilen dieses System zusammenbricht und eine Langsamkeit einsetzt, eine intensivere Gangart, etwas bis zu einem unbekannten Ende hin einmal ganz zu durchleben und ganz zu durchdenken…
Das Wort Sonntagskleid befindet sich in meiner Liste für ausgestorbene Wörter. Und ich bin wirklich dankbar, dass es noch vor dem Ende meiner Kindheit begraben wurde. Aus mir unerfindlichen Gründen mussten meine Schwestern und ich schon zum Sonntagsfrühstück in unseren Sonntagskleidern erscheinen. Der ganze Stolz meiner Großmutter lag darin, dass alle drei Mädchen gleich gekleidet waren, einige unserer Kleider in der Dirndl-Art der fünfziger Jahre. Mit Schürze. Knöpfe, weiße Krägelchen, in Herbst und Winter langärmlig.
Meine Mutter zelebrierte das Sonntagsfrühstück mit gefiltertem Bohnenkaffee für sie selbst und meine Großmutter, Kakao für uns, Toast, weichgekochtem Ei, weißer Tischdecke und Tschaikowski aus dem Radio. Dieser Geruch: Kaffee, angesengte Toastscheiben, gestärkte Servietten. Obwohl wir fertig angezogen in unseren Sonntagskleidern erscheinen und uns benehmen mussten, obwohl wir beim Essen nicht sprechen durften, befanden sich meine Schwestern und ich immer in einem akuten Zustand von Erwartung und Freude. Und nach dem Frühstück ging die Pein ja weiter; kein Spielen im Garten, kein Besuch bei den Kindern von Gretchen, die sich ganz ohne Sonntagskleidung in den Garten stürzten und sich den üblichen Dreckspielen hingaben. Aber etwas muss es gegeben haben, das all diese Sonntagstyrannei aufwog, vielleicht, dass wir in dieser kurzen Zeitspanne unsere Mutter in entspannter Gelöstheit für uns hatten.
In meiner Erinnerung habe ich vor allem gelesen, mit den Schwestern stille Spiele gespielt oder Radio gehört. Friedrich Luft: Die Stimme der Kritik. Sonntag Vormittag. Ich war fasziniert von dieser Stimme, diesem Enthusiasmus, diesen davonjagenden langen Sätzen. Ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach. Ich war erst ein Mal im Theater gewesen, irgendein Märchen, und einmal in der Oper: Hänsel und Gretel. Aber was wusste ich von Minna von Barnhelm, Goethes Faust, Gustav Gründgens, Brecht und Strindberg.
Nach den für jegliche Entwicklung geltenden Gesetzen, nämlich Veränderungen auf Grund aktueller Erfordernisse und neuer Bedingungen, hatten sich einige Zeit später die Sonntagskleider, gestärkte Servietten und brave stille Spiele erledigt; meine Mutter hatte eine Ausbildung zur Bibliothekarin in der Staatsbibliothek gemacht. Und nun ging sie volltags von Montag bis zum Samstag arbeiten. Unser familiäres Koordinatensystem hatte sich verschoben. Aber das Sonntagsfrühstück, Toast, Tschaikowski, weichgekochte Eier blieben (wenn mir mal bitte jemand erklären könnte, warum klassische Radiomusik in den 50ern ausschließlich aus Tschaikowski bestand…). Und eines Tages krochen wir auch an Sonntagen durch das Gartengestrüpp auf Schatzsuche oder strapaziöse Forschungsreisen durch das Amazonasgebiet.