.15. Patati patata

Wenn der Tag schon damit beginnt, dass ich auf der Bettkante sitze und geraume Zeit meine nackten Füße betrachte. So ein Tag ist das; Friedrike Mayröcker hat ein ganzes Buch darüber geschrieben: Ich sitze nur GRAUSAM da. Ich guck in die Welt, die Welt weicht zurück. Ich guck in den aprikosenfarbenen Himmel, als gäbe es da wunder was zu sehen; und gibt es ja auch immer, und nun dunkelt er zu. Aber ich gucke gar nicht, ich habe nur die Augen geöffnet und den Kopf zur Balkontür hin gewendet, und da ist mir dann der Himmel mit seinen Wolken zufällig im Blick. Glotze ich am Ende? Wie nennt man das, wenn man auf einen Punkt starrt und zu träge zum Weggucken ist?

Ich streife im langen schwarzen Nachthemd durch die Wohnung (und erinnere mich mit einem Mal an ein Nachthemd meiner Kindheit; es hatte einen rosa Kragen und eine am Rücken zu einer Schleife zu bindende rosa Schärpe. Das ist doch absurd!). Ich habe es aus dem Schrank geholt. Soll ich etwa warten, bis ich eingeliefert bin und kann es dann gar nicht tragen?

Zieh ich mich an? Wann? Warum? Ich darf zufrieden sein, dass ich nicht entscheiden muss, was ich anziehe, denn das ist sowieso immer dasselbe, schwarze Kniehosen, schwarzes T-Shirt. Und für draußen Brille, Hut, Turnschuhe, Jacke. Ende. Ich gehe am Spiegel vorbei. Und während ich seufze, sinken meine Schultern, die Leibesmitte knickt ein, mein Kopf schiebt sich schildkrötenartig vor. Ich möchte die Augen schließen und für die nächsten Stunden in dieser Haltung verharren. Aber da fällt mir Frau Bottke ein. Und der mit einem kurzen Auflachen einsetzende Schwung bringt mich immerhin vor das Bücherregal und reicht, das Buch aus der Reihe zu ziehen und aufzuschlagen.

„Und da geht das Telefon. Abschwangen dreidreidrei, sagt Schlitzkus, dann hört er eine Weile zu, dann sagt er, Bottke, du sollst nach Hause gehen. Na ja, sagt Bottke, und Petrat erzählt etwas über Frauen und Männer. Die deutsche Frau hat warten gelernt, auf den Mann. Und als diese Frau Bottke zum zweiten Mal anruft, sitzt der Bottke immer noch da und bleibt auch sitzen. Und nun also geht das Telefon zum dritten Mal. Da steht Bottke auf und mit ihm Petrat. Und Bottke bleibt stehen und Petrat tritt dem Telefon entgegen und sagt guten Abend.

Na ja, Sie sind da, Sie mit Ihren Erzählchens, natürlich, hätte ich mir ja denken können, sagt Frau Bottke und will noch mehr sagen, aber das heißt die Freundlichkeit zu weit treiben, für Petrat, also sagt er, man beachte die Feinheiten: Frau Bottke – das ganz fest einsetzend, aber ganz verbindlich ausklingend, dann weiter im Ton sachlicher Feststellung, gleichzeitig jedoch ein wenig entrüstet und auch wieder bedauernd (weil man, ganz ungewollt, Zeuge geworden ist eines solchen Auftritts) – Frau Bottke, im Nachthemd kommen Sie am Apparat?“

Ich lese mit Bobrowskis Stimme, eine weittragende dunkle volle Stimme. Gedichtestimme. Dichterstimme. Niemand liest seine Geschichten so gut wie er selbst.

Ich weiß nicht, wie dieser Tage zu Ende gehen soll. Ich fass was an und lass es im selben Moment aus der Hand. Es versteht sich, dass ich mir alles Schlimme anhöre und angucke, was ich sonst dosiert zu mir nehme. Sehenden Ohres. Aber nein, dieser ganze unselige Verschwörungsquatsch, das kann man unmöglich ertragen, nicht mal in dieser masochistischen geistigen Trägheit. Und niemand ruft heute an.

Außer Händewaschen und in die Wolken zu gucken und Podcasts zu hören habe ich heute eigentlich nichts getan. Außer einen neuen Lippenstift zu ruinieren, indem ich die Kappe mit Gewalt auf die Spitze drückte. Warum? Niemand weiß es. Und außer gähnend Geschirr aus der Spülmaschine auszuräumen und gähnend anderes einzuräumen. Außer an die Welt zu denken. Das kann man unmöglich tun nennen. Natürlich muss ich nicht unablässig etwas TUN in Großbuchstaben. Das weiß ich. Aber diese Form des Nichtstuns ist verheerend, sie ist angesiedelt lange vor einem anständigen depressiven Anfall, weit entfernt von kreativer Melancholie und hat mit einem wachen entspannten gelösten in einem Dasein Aufgehen gar nichts zu tun.

Kürzlich schrieb ich einer Freundin eine lange Epistel über die Berechtigung des Jammerns, ja deren Notwendigkeit. Nicht das kluge analytische Klagen, sondern das kleinliche jammrige narzisstische selbstvergessene Wimmern und Stöhnen. Wo ist sie? Was habe ich geschrieben? Ich will es lesen.

Einer der Sätze, die ich tief verabscheue, lautet: Das bringt doch nichts. Wenn ich das zu hören kriege, mit einem Achselzucken und schiefem Lächeln tapfer vorgetragen, krieg ich Zustände. Oder: Muss ja. Das ist beinahe noch schlimmer. Geh nur einmal die Straße hoch und runter, dann kannst du das im Dutzend eintüten.

Barbara aus Washington schreibt: Hier geht alles seinen ruhigen Corona-Gang: lange schlafen, viel ruhen, warme Sonne aufsaugen, nur zwei oder drei Corona-Sendungen oder Interviews anstellen, Trump ausschalten, telefonieren, qui gong, Arte checken, Saubermachen auf den nächsten Tag verschieben, Radfahren mit dem stationary bike, Katzen zählen, Bücher aussortieren…

Übers Jahr verteilt kriege ich Fotos von Waschbären, Füchsen, Rehen und in knalligen Farben befiederten Vögeln, die sich auf der Veranda rumtreiben. Im Winter Bären! David ist 90 geworden. Die Nachbarn und Freunde kaufen für sie ein. Zum ersten Mal, schreibt Barbara, sieht es ja entschieden endlich aus. Aus und vorbei steht plötzlich an der Wand. Lässt sich schwer ignorieren. Aber erstmal gibt es noch so viel zum Freuen: Der Frühling, der die Berge lebendig macht, Goldfinken und Bluebirds, Rhabarber gepflanzt, Schulden abbezahlt undundund…

Claudine schreibt: Und hier im Garten kann man fast alles vergessen, manchmal haben wir Besuch. Wenn das Wetter gut ist, sitzen wir zu viert am großen Tisch, jeder an seinem Ende, zu einem Kaffee. Und das ist dann schon Glück.

Ich habe damit begonnen, die kleinen und größeren Löcher an den Wänden kunstvoll mit Spachtelmasse zuzukleistern. In die alten Dübel drehe ich Schrauben und ziehe sie dann mit einem Ruck aus der Wand (mit einem Knirschen gibt sie nach und speit Mörtel und Steinstaub hinterdrein). Die meisten Bilder in der Küche, die mir gleichermaßen Esszimmer und Arbeitszimmer und Druckwerkstatt ist, hängen nur deshalb an genau diesem Platz, damit sie alte Löcher von anderen Bildern und mit Gips unschön verstopfte Krater verdecken.

Das ist die logische Folge meiner ganzen Aussortiererei, die sich bis in den letzten Winkel meiner Wohnung fortgesetzt hat in einer Art Kettenreaktion. Ich kann mir Zeit lassen, ich kann mir die Wände Stück für Stück vornehmen. Was ich nicht kann, ist, oben die Wand am Winkel zur Decke abkleben. Da komme ich nicht ran. Und es schaudert mich, wenn ich an die Leiter denke und daran, dass die meisten Unfälle, die geschehen, genau von dieser Art sind; sie passieren munteren alten Frauen, die bloß mal eben was an der Gardinenstange geraderücken wollten. Vor zwei, drei Wochen habe ich mich mit einem aus der Gruppe meiner reizenden jungen Leute im Haus abgesprochen. Wir hatten es uns so ausgedacht: Vor der Haustür zieht er die Schuhe aus, im Flur die Einmalhandschuhe an, besteigt die Leiter, klebt, geht wieder, während ich solange Lieder singend auf dem Balkon stehe. Das kommt mir alles dermaßen verrückt vor. Andererseits ist es nicht verrückter als alles andere, das flüchtig an ein früheres Leben erinnert, in dem Dinge wie mit dem Fahrrad zur Post zu fahren, zum Baumarkt, auf den Markt, zum Laden für Wolle und Stoffe…  für Schrauben, Blumen, Knöpfe und Klopapier … unbefragt Bestandteil waren.

Diese Beschränkungen haben sich nun seit einer Woche mit einem Ruck aufgelöst. Und schon sind die Tische vor den Restaurants und Cafe´s besetzt wie eh und je. Vor den Läden Schlangen wie in DDR-Zeiten. Bei manch einem mögen wohlige Erinnerungen aufsteigen. Das scheinen auch diejenigen zu sein, die aus Prinzip weder Masken tragen, noch Abstand halten, und gerne Sätze wie diesen sagen: Man kann es auch übertreiben!

Kürzlich besuchte mich Tilly ein zweites Mal – mit Abklebeband. Aber hauptsächlich saßen wir im Garten, berieten Pflanzungen, ob wieder Mais und Zuccini in einer Apfelkiste, wohin mit den Kürbissen… und vertieften uns in Bücher. Beide wissen wir mehr über Pflanzen und Gestaltung, als unsere Köpfe auf Dauer fassen können. Und trotzdem oder deshalb ist es uns das Größte, wenn wir mal auf ein noch unbekanntes Buch oder Heft mit den allerschönsten Bildern stoßen, guck mal hier, ach nee, ach Gott!, aber das da…

Ich bin in die Betrachtung der linken Küchenwand vertieft, am Rande meines Bewusstseins erscheinen in Lebensgröße Pinsel und Malerrolle. Das ist zuviel. Das nächste Bild zeigt mich in klassischer Pose in meinem Sessel, Füße auf der Fußbank, Kopf zur Seite geneigt, mein linker Arm hängt über der Sessellehne und die Hand fasst ein in der Mitte aufgeschlagenes Buch zwischen Daumen und Zeigefinger: Ich sitze nur GRAUSAM da.