Um mich her strömten am Sonntag die Menschen hierhin und dahin, saßen in den Restaurants, auf den Straßen vor den Cafés. Der Flohmarkt war geöffnet, Gedränge, Geschiebe, Nähe – das ist der Charakter von Flohmärkten. Masken, Abstand? Eine Behauptung. Warum ausgerechnet die Kinder von diesen Lockerung genannten Erwägungen ausgeschlossen bleiben, ist rätselhaft; ausgerechnet diejenigen, die in jeglicher Beziehung am meisten und dies in vielfacher Hinsicht auszustehen haben.
Die meisten Menschen verhalten sich, beobachte ich, als wären wir über den Berg. Aber vielleicht täuscht das, und es ist nichts als ein Reflex auf das unsichtbare Unheimliche. Es scheint, wir sind nicht gemacht für so viel Unsicherheit. Mit handfesten Gegebenheiten, Mangel, Krieg, Katastrophen, wissen wir umzugehen, anderes ist gelernt über die Jahrtausende, aber Pest, Cholera und Corona werfen uns aus dem Gleichgewicht. Das ist nicht gut auszuhalten. Und so sich eine Annäherung an Normalität zeigt – aufatmen, raufstürzen, festhalten, leben… Ich versteh´s ja. Aber das Virus bleibt weiterhin in der Welt.
Und ich bleibe weiterhin alt.
Mit Träumen könnte ich einen schwunghaften Handel treiben; es ist von allem etwas da, für jeden Geschmack und jedes Bedürfnis, für jedes Alter, für jede Obsession; sackweise, kartonweise.
In jungen Jahren war ich viel in der Luft unterwegs, konnte mittels Schwimmringen oder anderer Dinge fliegen, konnte aus eigener Kraft über Bäume springen, atemberaubend schnell Rollschuh fahren, mich vor Verfolgern mittels Sprüngen in Zeitlupe ins Abseits retten… Aus bodenlosen verschleierten Zusammenhängen. Die Träume der Adoleszenz.
Später waren es verwirrende und beängstigende, schräge oder absurde Ereignisse, von denen meine Träume wie Urländer und Urwälder besiedelt waren, die den beängstigenden und absurden und schrägen Ereignissen im wachen Leben schrecklich ähnelten; behördliche Willkür, Hausdurchsuchungen, Bespitzelungen, Verhöre und die sich daraus ergebenden zwischenmenschlichen Dramen und zum Bersten komischen Konstellationen.
Einer meiner Lieblingsträume aus den Anfang der 70er Jahre endete so: Wieder einmal stand ich vor einem uniformierten Menschen und hatte wieder einmal das für irgendein in dieser Welt existierendes Erfordernis notwendige Papier nicht vorzuweisen. Er selbst, der Uniformierte, hielt eine Rolle mit Abrisskarten in der Hand, die denjenigen ähnelten, die als Eintrittskarten in Kinos oder Fahrkarten in den Drehschaltern der Straßenbahnen verwendet wurden. Nach einem kurzen Wortwechsel, ich flehend, er barsch, ich Ja, er Nein, fragte ich, was das denn für Karten wären, die er bei sich habe. Das, sagte der Uniformierte triumphierend und hob die Rolle auf Augenhöhe und schwenkte sie sachte und grinsend hin und her, sind Sonntagsrückfahrkarten zur Revolution.
Da heulte ich auf und sprang auf ihn zu und riss ihm die ganze Rolle aus der Hand. Die brauche ich, schrie ich und rannte davon, eine flatternde Schlange hinter mir her ziehend.
Sonntagsrückfahrkarten… das muss man sich mal vorstellen. Hatte ich je damit zu tun? Mal gerade, dass ich diesen Begriff kannte. Aber wie wunderbar, welche Umdeutungen oder Rückführungen auf Bedeutungszusammenhänge das Unbewusste in den Träumen vornimmt. Sonntagsrückfahrkarten, ist nachzulesen, gab es seit dem 19. Jahrhundert bei der Bahn, blieben in der DDR bis zu ihrem Ende erhalten und verschwanden erst mit der Wiedervereinigung.
Und gerade erinnere ich mich an dies: Die über 90jährige Mutter meiner lieben Gundel sagte, aus dem Schlaf, dem Traum oder einem der in diesem Alter immer häufiger vorkommenden Dämmerzustände auffahrend beglückt: Das Gehirn ist doch eine wunderbare Sache; eben war ich in Florenz.
Jahre meines Nachtlebens habe ich in einem Zustand von Yonder verbracht, mich nämlich einem Ort zu nähern, der, war er schließlich erreicht, sich in einen anderen verwandelt hatte. Während in meiner Zeit in der DDR die andere Welt, das Ausgesperrtsein, das Eingesperrtsein in allen seinen Erscheinungsformen in meinen Träumen variiert vorkamen, waren es dann vom Westen aus komplizierte Grenzüberwindungen. Nach meiner Übersiedlung nach Westberlin war ich bis zum Mauerfall, genau genommen noch darüber hinaus, bis zum Dezember nämlich, eine für den Grenzübertritt gesperrte Person. In dieser Zeit träumte ich mich durch alle mitteleuropäischen Landschaften hindurch, undurchdringliche Wälder, verwirrende Sümpfe, ausgedehnte Wiesen, klüftige Berge und versunkene Täler, Seen, Flüsse… Allen Orten gemeinsam war, dass jeder Weg zu einem Grenzposten führte, der wie Charon darüber entschied, ob er einen ins Land der Seligen führte oder abwies.
Mehrmals variierte ich im Traum diese Geschichte: Ich lief in der Dämmerung einen sich weit in den See hinaus erstreckenden hölzernen Steg entlang, an dessen Ende sich eine fensterlose Bretterbude befand. Eine Klappe öffnete sich, im Spalt erschien eine Hand, die mir einen Stapel mehrfach gefalteter Zettel entgegenhielt. Ich steckte die Papiere in einen dieser wasserdichten Umhängebeutel, wie sie von Kindern für Monatskarten verwendet wurden, und die man um den Hals trug. Ich stieg in ein kleines wackliges Ruderboot und ruderte über den See. War ich schließlich angekommen, hatte ich einen menschenleeren finsteren Platz vor mir, an dessen gegenüberliegender Seite eine hell erleuchtete Straßenbahn stand, die nun klingelte, aber meine Zeit war bereits abgelaufen und über den See hinweg läutete es Mitternacht.
Ich suchte mit Rucksack und Wanderausrüstung ausgestattet mittels einer schwer entzifferbaren Karte meinen Weg durch einen dicht bewachsenen Wald. Hatte ich den Grenzposten erreicht, einen gutgelaunten Mann an einem wackligen Küchentisch mitten auf dem sandigen Pfad, fehlte mir ein Papier oder ich befand mich dann doch vor dem falschen Übergang und musste zurück und hatte die weitschweifig vorgetragene Wegbeschreibung schon vergessen, bevor ich um die nächste Biegung war.
Einmal war ich mit meiner Mutter unterwegs, wir wurden in Bussen mit vielen Anderen vor einen meterhohen Gitterzaun gekarrt. Wir durchschritten ein zweiflügliges Tor. Unsere Tour wurde uns im konspirativen Flüsterton an einem Buswartehäuschen, an dem nie ein Bus hielt, beschrieben. Das ganze Unternehmen war getarnt als Ausflug; wir begegneten Scharen von munteren Ausflügern und Wanderern, die uns Launiges zuriefen und von denen wir in unbeobachteten Momenten verstohlene böse Blicke auffingen. In den Gräben am Wegesrand, hinter Büschen verborgen eilten parallel zu uns als Riesenkaninchen verkleidete Wesen. Wir wussten nicht, ob zu unserem Schutz oder zu unserer Bewachung. Wir bezogen in einer kleinen alten Pension zwei Zimmer. Während des Abendessens wurde mir zugeraunt, ich solle mich in einer Stunde in der Apotheke einfinden. Meine Mutter tat meinen Argwohn und mein Unbehagen ab. Als ich vor der Apotheke ankam, fand ich nur verschlossene Türen und zugezogene Vorhänge vor. Und in der Nähe und im Dunkeln umherhuschende Gestalten, die mir rätselhafte Zeichen machten. Morgen reisen wir ab, sagte ich. Aber meine Mutter war mit einem Mal matt und wirkte resigniert. Und als sie die Rechnung unterzeichnete, hielt sie plötzlich statt eines Stifts ein Messer in der Hand, und statt zu unterschreiben, stach sie in die über ein Etwas gewölbte Serviette, die sich blutrot färbte.
Ich könnte Seiten und Bücher füllen mit solchen Geschichten, die am Ende in ein Gefühl von untröstlicher kummervoller Vergeblichkeit mündeten oder auch in Erleichterung; ich weiß, ich kann mich immer entscheiden. Traumforscher sagen, wir trainieren in einer eigenen virtuellen Realität für unser Wachleben. Der präfrontale Cortex, zuständig für kritisches Denken, Logik, Sinn und Moral tritt in den Hintergrund, während alle anderen Hirnteile hellwach sind. Ich erkenne die Grundmuster meiner Träume, häufig kann ich eingreifen in das Geschehen – luzides Traumbewusstsein. Mein TraumIch korrespondiert mit meinem WachIch.
Heute früh erwachte ich mit den Bildern von meinem ersten – erinnerten – Corona-Traum, in dem wie vermutlich in allen anderen auch der Begriff selbst nicht vorkam, sondern vielmehr die Folie abgab für die abgebildeten Geschehnisse.
Ein langgestreckter von Ahorn und Linde umstandener Platz in der Innenstadt, gesäumt von alten Mietshäusern, ein von Spiel- und Klettergeräten entleerter Platz. Großer umrandeter Sandkasten, ein paar Überreste von Schaukeln, Wippen, ähnlich dem ausgeweideten Vergnügungspark in Treptow, der wiederum in gespenstischer Weise an den von Gräsern und Birken überwucherten Rummelplatz in Pripjat in der Nähe von Tschernobyl erinnert. Inmitten der Vegetation die aus dem Gestrüpp herausragende Ruine eines krummen Riesenrads.
In einer Reihe dicht an dicht entlang des Zaunes kleine Bäume, alles dieselbe Sorte, Buchen vielleicht, dicke Wurzelballen. Jeder, der diesen Ort betritt, muss, um auf die andere Seite zu gelangen, einen dieser Bäume einpflanzen. An den Seiten des Sandkastens und rund um die aus dem Boden ragenden Stahlrohre befanden sich Löcher in der Erde. Spaten steckten in den Erdhügeln. Offenbar hatten erst kürzlich Wasserbohrungen stattgefunden und provisorische Leitungen zogen sich kreuz und quer durchs Gelände. Gießkannen fand ich erst, nachdem ich hin- und hergelaufen war, in einem unordentlichen Haufen übereinandergestapelt. Aus den Fenstern und von den Balkonen her verfolgten Menschen still das Tun auf dem Platz. Junge Leute, Familien. Und wir mit diesen Bäumen befasst: alles Alte. Und wollte schon erschrecken, aber da erschien Anna mit ihren Töchtern, fünf und sieben Jahre alt, sie sprangen auf mich zu. Sie sagten, machen wir weiter? Offenbar hatten wir irgendein festes Spiel, ein Ritual. Ich erinnerte mich aber nicht, welches.
Mit dem Traum hinter den Augen lief ich morgens am Flüsschen entlang. Es hatte zum Glück in der Nacht geregnet. Genug, sah ich zufrieden, dass der Fluss wieder in Bewegung gekommen war. Am Tag zuvor hatten die Opheliahaare auf der Wasseroberfläche gelegen; Schlieren hatten sich um sie herum gebildet, Inseln waren entstanden. Es schien, als strömte der Fluss nur sachte an den Rändern und stand in der Mitte. Wie immer senkten die Trauerweiden ihr zitterndes Laub in den Wasserspiegel.