.17. Höhlen

Am späten Abend trug ich meine Bettdecke zum Balkonbett, streckte mich darunter aus und ließ mir inmitten von Blumen und duftenden Küchenkräutern, Salatpflanzen, rotem Mangold und hängenden Erdbeeren den kühlen Wind übers Gesicht fahren: Welch eine Köstlichkeit! Ich erinnere mich der letztjährigen heißen Sommernächte. Wenn dann eine leichte Brise über einen hinweg geht nach einem trockenen erschöpfenden auszehrenden Tag unter einer brennenden Sonne, ist das reines Glück. Noch waren die letzten Nächte feucht und kühl und ich floh wieder ins unbewegte Innere. Aber jetzt und sofort ist die Schlafbalkonsaison eröffnet.

Es grenzt an ein Wunder, dass von den zwölf Wohnungen im alten Hinterhaus und etwa gleich vielen im angrenzenden Neubau kaum je die samtene Stille unterbrechende Geräusche ausgehen, fast nichts, manchmal ein feines Gemurmel von einem der anderen Balkone, spätestens gegen 23 Uhr Ruhe.

Wenn ich also in den Sommernächten auf dem Balkon schlafe, bin ich ganz eingetaucht in diese besondere Art von Stadtstille, die vor allem aus dem, was gerade in diesen Stunden nicht geschieht, besteht. Stattdessen Geraschel aus den Büschen, das Rauschen der Bäume, vereinzelte Vogelrufe,  gegen Morgen ein fernes Dröhnen von der weit hinten liegenden Schnellstraße, und dann und wann donnert ein Güterzug. Und über allem die indigofarbene Unendlichkeit, der ich mich überlasse in einer Art tröstlicher und glücklicher Demut.

Vor mehr als hundertzwanzig Jahren, als die Post noch zweimal täglich ausgetragen wurde, erschienen auf den Straßen von Menschenhand bewegte Karren und kernige Männerstimmen brüllten: Bluumen-Erde! Bluumen-Erde! Man holte sich die von Regenwürmern und kleinem Krabbelgetier durchsetzte Erde in Kohlen- und Mülleimern ins Haus.

Um 1900 galt Berlin als die Balkon-Hauptstadt Europas und übertraf mit ihrer Balkonkultur noch Paris. Über die vielfältige Nutzung der Balkone schrieb Frau A. Ploschnow 1904 in einer Berliner Zeitung: Diese grünumrankten, blumengeschmückten Ausbauten geben unserem einförmigen Straßenbilde einen liebenswürdigen Zug, und wenn einem Berliner die Wahl gelassen wird zwischen einer Wohnung mit oder ohne Balkon, zieht er unbedingt die erste vor, mag sie auch sonst recht viele Mängel aufweisen. Der Balkon ersetzt ihm vieles. Er dient abwechselnd als Kinderzimmer, Speisekammer, Gartenrestaurant, Studierstube und Sommerfrische. Er begreift in sich alles, was der Großstädter vom Umgang mit der Natur in sein tägliches Leben einbeziehen kann.

In dem wunderbaren Buch Berliner Balkongeschichten (Verlag Nishen 1988) finden sich alle nur denkbaren Lebenssituationen von etwa 1900 an über einige Jahrzehnte hinweg abfotografiert; das Kaffeekränzchen, die Hausmusiker, die kindliche Geigerin, das Hochzeitspaar, Einschulung, Kommunion, Geburtstage, Babys schlafend, schreiend, das Kleinkind in der Wanne, der Soldat auf Urlaub… Vor kümmerlichen Geranien, üppigem Wein, vor an Schnüren rankenden Bohnen oder nacktem Mauerwerk, in Gesellschaft von Hunden, Katzen, filigranen Vogelbauern, mit erhobenen Weingläsern, Pfeife, Zigarette, Kaffeekanne, unter Sonnenschirmen, in Unterwäsche…

Heutzutage sind die ab den 90iger Jahren an die alten Häuser angeklebten modernen Balkone größer. Platz für kleine Stadtgärten, Gartentisch und Bank oder wie in meinem Fall ein Bett. Und allein die Möglichkeit, eine Tür nach draußen in die Welt zu öffnen, vergrößert meine Wohnung gefühlt um das Doppelte.

Jetzt baumeln an dem Spanndraht von einem Balkonpfeiler zum nächsten, an dem die vom Fenster und der Balkontür herüberhängenden Sonnenvorhänge angeklipst sind, auch meine alten schwarzen und weißen Häkelhandschuhe und die Masken in der Sonne.

Gegen fünf Uhr früh ohrenbetäubendes Vogelgeschrei, konzentriert aus dem Efeu des Wasserturms links und zwei, drei Bäumen, das etwa eine halbe Stunde lang anhält und sich dann verliert. Wach ist man dann unbedingt. Neben dem Bett auf einem kleinen Tischchen die Bücher, die ich gerade lese. Meist schlage ich sie auf und halte sie eine Weile in der Hand, dann ein paar Sätze, dann gucke ich wieder in die Luft. Noch hält die Stille in den Wohnungen an. Meine liebste Zeit, die Nacht auf dem Balkon und die frühesten vollkommenen Stunden des beginnenden Morgens.

 

Am Tage der normale Wahnsinn. Derzeit sieht man viel empörtes Volksmurren. In einer dieser Reportagen, die mir denn doch von Zeit zu Zeit unter die Augen geraten, tritt ein Mensch, der für gewöhnlich hinter den Gardinen aus dem Haus heraus meckert, vor die Kamera, zielt mit dem Finger auf einen fernen Feind, also auf die, schreit was, dann ein Wegdrehen und Gehen, absichtsvoll den Rücken zeigen, aber nach einigen Schritten den oft deklamierten Vorwurf noch auf die Spitze treiben, indem er ein paar letzte Worte herausschleudert. Im Bewusstsein der Vergeblichkeit allen Mühens fällt die Schulter nach vorn, sackt der Körper schlaff in sich zusammen. Dann von weither ein abermaliges Aufbäumen, den Kopf wenden und über die Schulter noch einen Satz zurückbrüllen, dann Abgang. Dem der Dialog so fremd ist wie ein Gehörtwerden denkt nun, jetzt habe er es denen aber gegeben. Aber glaubt er das wirklich? Oder was sonst? Und in Wirklichkeit bleibt er der geprügelte Hund und sein vermeintlicher Ausbruch ist nicht mehr als ein Winseln.

All diese armseligen Gestalten, über die man vermutlich weinen sollte, aber wenn sie sich zusammenfinden und gemeinsam geifern und das Fußvolk für Verschwörungstheoretiker und Ideologen abgeben, bilden sie plötzlich doch eine amorphe nicht ungefährliche Masse.

 

Am Samstag bin ich nach drei Monaten wieder einmal mit der S-Bahn gefahren. Ich hatte mir einen Zeitpunkt gewählt, zu dem ich die meisten anderen Menschen just in der Gegenrichtung unterwegs wähnte. Aber sie waren es zu Hauf in alle Richtungen. Und in der Innenstadt tobte das Leben wie eh und je, seltsam unwirklich illustriert durch die verschiedenartigsten bunten und gemusterten Masken.

Puppentheater auf dem Balkon für Emil, Spielstraße.

Auf dem Rückweg von der Bahn aus: Der Alexanderplatz ist schwarz von Menschen, die ihre Fäuste in den Himmel recken und irgendetwas schreien.

Keine Musik in der Bahn. Und ich erinnere mich mit einem Damalsgefühl, als wäre das jetzt schon Jahre her, an all die Straßenmusikanten, die durch die Abteile zogen; manchmal zum Ohrenzuhalten, schräges Herumgekratze auf der ollen Fidel, unvorstellbarer Krach aus mitgeführten Anlagen. Dann wieder bewegende geradezu innige und beglückende Momente: ein Flötist, ein Saxophonist, Bach, Jazz…

Von allen Musikern in den zugigen U-Bahnschächten war mir ein alter Russe der liebste, vielleicht noch der Cellospieler in einer Unterführung zwischen Hackescher Markt und Spree, den ich aber nur einmal sah und dann nie wieder. Der Russe spielte Akkordeon vor einem wackligen Notengestell in Grätsche und einer sich ständig in Auflösung und im Fluge begriffenen Lose-Blatt-Sammlung handgeschriebener Noten und Liedertexte, so dass er vollkommen darin aufging, neben der Handhabung des Akkordeons den Notenständer und die rutschenden Noten zu retten, zudem seine Brille an den Ohren festzudrücken und seine Augen dicht, sie fest zusammenkneifend, an das Notenblatt heranzuführen.

All diese Manöver, sollte man meinen, würden ein stockendes Spiel erzeugen, aber so war es nicht; er sang mit schöner voller Stimme und spielte fehlerlos. Man musste schon eine Weile in seiner Nähe zubringen, um das hundertarmige Gesamtkunstwerk genießen zu können.

Von seinem Publikum nahm er nicht die geringste Notiz, außer beim Klingeln einer Münze. Dann lächelte er ein schiefes Lächeln und nickte dankend in eine ungefähre Richtung, denn natürlich konnte er weder Blatt noch Brille noch Notenständer auch nur eine Sekunde aus seiner Aufmerksamkeit entlassen. Ich habe auch nicht erlebt, dass er eine Pause einlegte; war ein Stück beendet, fischte er aus den Noten ein anderes Blatt heraus, versetzte dem Notenständer einen Schlag, räusperte sich und begann von Neuem.

Ich hatte es mir angewöhnt, immer Klimpergeld griffbereit in der Tasche zu haben. Aber einmal hatte ich nichts dabei, als ich dem alten Russen begegnete, und legte einen zerknitterten Fünfer in den aufgeklappten Akkordeonkasten. Geräuschlos. Aber auch das nahm er aus irgendeinem Augenwinkel seiner hundert Augen wahr und bedachte mich mit einem besonderen Lächeln und einem besonders heftigen Kopfnicken.

 

Nach meinem ersten Ausflug in die Stadt kroch ich dankbar und von Ich-weiß-nicht-was-allem gehörig mitgenommen in meine Höhle zurück. Und besprach wenige Tage später mit Renate aus meiner fünfköpfigen Ladygruppe (hervorgegangen aus einem dreimonatigem Antistress-Lehrgang am Naturkrankenhaus Wannsee) in meinem Garten die verschiedenartigen Verunsicherungen, denen wir in diesen Zeiten ausgesetzt sind, und welche Strategien wir entwickeln, ihnen möglichst kreativ zu begegnen. Mehr oder weniger gefangen, mehr oder weniger frei. Renate zum Beispiel, die bewundernswert und unerschrocken sich nach Sonstwohin allein aufmacht, nach New York zur moma, hier eine Wanderung, dort eine Reise…, hat sich für September notwendigerweise ein paar Tage Ostsee gebucht. Und ich bemerke bedauernd, so weit kann ich gar nicht denken. Und könnte ich es, würde ich vermutlich dennoch nichts planen, weil es mir zur Zeit unmöglich ist, meine Höhlen außer für wenige übersichtliche Stunden zu verlassen.

Und meinem Gefühl nach stürzte ich am Samstag nach meinem Stadtausflug in die Wohnung, warf mich von innen atemlos gegen die Tür, taumelte ins Balkonzimmer und streckte mich mit ausgebreiteten Armen und Beinen auf dem smaragdfarbenen Teppich aus, als sei er mir nun die Wiese und die Zimmerdecke der Himmel und der Raum und der Balkon die Welt.