.18. Generationen oder: Die Schwäne fliegen ein

Im ersten Moment könnte man meinen, in der Reihenfolge fehle eine Generation, die nämlich zwischen meiner Mutter und den beiden alten Damen, eine etwa Fünfzigjährige. Aber tatsächlich ist die Greisin, auf deren Schoß ich an meinem ersten Geburtstag sitze, nicht neunzig, sondern in den Siebzigern, so alt wie ich heute. Und meine Großmutter neben ihr ist nicht siebzig, sondern in Wirklichkeit Mitte Fünfzig.

Das Erscheinungsbild der Generationen und auch unsere Zuordnung haben sich verschoben, bei den Frauen viel heftiger zu bemerken als bei den Männern.

Auf einer gelbstichigen Fotografie sieht die damals sechzehnjährige Adelheid im knöchellangen Kleid und mit hochgesteckten Haaren aus wie eine erwachsene, mindestens dreißigjährige Frau. Und im Alter zwischen fünfzig und siebzig scheint sie sich gar nicht verändert zu haben.

Die neuzeitliche Verherrlichung und Anbetung von Jugend, das Götzentum der Faltenlosigkeit, die in den vergangenen Jahrzehnten ins Riesenhafte aufgeblasenen Wirtschaftszweige im Dienste der Unsichtbarkeit des Alters will ich hier gar nicht thematisieren, auch wenn ich selbst auf irgendeine diffizile Weise manchmal diesen Bildern verfalle oder in eine dieser Fallen tappe, die so überreichlich vor mir aufgebaut sind. Das steht auf einem anderen Blatt.

Meine Urgroßmutter Friedchen sehe ich in meinen bruchstückhaften Erinnerungen  ausschließlich als stille und zurückgezogene Uralte. Meine Großmutter erscheint nur wegen der ihrem Alter und der Zeit entsprechenden Frisur und Bekleidung so matronenhaft und großmutterhaft, auch, als hätte sie sich bereits aus dem Leben zurückgezogen. Als wären jetzt die Kinder und Enkel dran, als hätte sie selbst nichts mehr zu erwarten. Und wenn das, was ein Mensch vom Leben zu erwarten hat, so festgeschrieben ist, wie es offenbar zu jener Zeit und an diesem Ort geschah, schreibt es auch die Erscheinung fest, manifestiert sich in den Gesichtern und in der Körperhaltung.

Ich erinnere mich, dass mir meine Mutter einige Male, wenn sie nach einem Spaziergang mit meinem damals einjährigen so hübschen dunkelgelockten Sohn zurückkehrte, mit leisem Triumph erzählte, man habe sie für die Mama gehalten. Ich fand das lächerlich. Sie war Mitte vierzig. Vermutlich fragt sich heute kein Mensch mehr, ob da die Mutter oder die Großmutter das Kind durch die Welt schiebt oder trägt; beides ist denkbar und beides ist gut.

Ich liebe das Generationenfoto sehr, es hat mich eingerahmt durch alle Wohnungen und alle Lebenssituationen begleitet, ich habe es gezeichnet, in Öl gemalt, fotokopiert und vergrößert… Morgen, Mittag, Abend, Beginn und Ende. Alle vier Menschen so unterschiedlich. Und alle vier so miteinander verbunden wie die russischen ineinandersteckenden Matrjoschkas, dass man die eine in der anderen suchten möchte. Immer, wenn ich das Foto betrachte, ist mir gleichermaßen unsere Verschiedenheit und die Einzigartigkeit unserer jeweilen Existenzen bewusst ebenso wie die geheimen dunklen genetischen und lebensgeschichtlichen Fäden, die uns miteinander verknüpfen.

Wieviel von meinen Vorvätern in mich eingegangen ist, habe ich mich nie gefragt. Aber die Linien, die meine Urgroßmütter, meine Großmutter, meine Mutter in mein Leben gezeichnet haben, die spüre ich, die empfinde ich als in mein Bewusstsein und mein Unterbewusstsein eingeritzt.

Meine Urgroßmutter Friedchen kam mit 14 oder 15 Jahren zu einer Grafenfamilie in einem der Nachbardörfer als Zimmermädchen in Stellung. Der Sohn des Grafen hat sie geschwängert, als sie siebzehn war, aber – wie es wohl üblich war – durchaus nicht geheiratet. Friedchen wurde vielmehr, noch vor der Geburt des Kindes, grad, als sie 18 Jahre alt geworden war, mit einem Kaufmannssohn verheiratet, offenbar eine Übereinkunft von Friedchens Eltern und dem Grafen, vermutlich mit einer anständigen Mitgift versehen. Sie gebar Adelheid, meine Großmutter, und später zwei weitere Töchter, Amanda und Lisbeth. Meine Großmutter wuchs zu einer Schönheit heran, die Halbschwestern ähnelten ihrem Vater. Aus irgendeinem Grunde war der gräflichen Familie daran gelegen, dass Adelheid eine für die Zeit und ihre gräfliche Herkunft passende Erziehung erhielt, obwohl sie sie nie zu sehen verlangten und meine Großmutter ihren leiblichen Vater nie kennenlernte.

Mit sechzehn kam das Dorfmädchen in ein Schweizer Pensionat, lernte Haushaltsdinge, künstlerische Arbeiten, Französisch, Singen. Sie war in der Oper, im Ballett, in Kammerkonzerten. Niemand sonst im Dorf hatte je ein Opernhaus von innen gesehen, kaum einer eines von außen.

Manchmal, wenn ich bei meiner Großmutter in ihrer Wohnstube saß, umgeben vom Geruch der Stifte und dem von altem Holz und dem windgetrockneten Tischtuch, sagte ich, erzähl mir mal. Und sie erzählte gerne von früher (als das Leben noch gut war, als noch nicht gestorben und geschieden worden war), von ihren – glücklichen – Eltern, den Hunden und Pferden und Gärten, aber nicht gar so ausführlich von diesem ausländischen Schweizer Pensionat. Ich musste ihr jede Einzelheit aus der Nase ziehen. (Und viel später dachte ich an sie, als ich Mädchen in Uniform sah.) Einige wenige Male setzte sie dazu an, das Haus zu beschreiben, die Schlafkammern, die anderen Mädchen… Aber ohne wirkliche Lebhaftigkeit, gewissermaßen stumpf. Und bald stockte ihre Erzählung. Nur manchmal blitzte etwas auf, aber gleich begann sie zu schweigen und verlor sich in Nachdenklichkeit. Und zu mir dann – kein Wort. So ist es kein Wunder, wenn ich rein gar nichts von diesen frühen Erzählungen in Erinnerung behalten habe, nichts hat sich mir eingeprägt.

Ich vermute, dass diese Erinnerungen in ihrem Gedächtnis nicht lebendig geblieben sind, weil sie nicht lebendig bleiben durften, weil sie in ihrem Zuhause, bei den Eltern und Schwestern keine Beachtung fanden. Sie galten nicht nur nichts, sie störten beim Vergessen eines Familiengeheimnisses. Und ich frage mich auch, ob Adelheid nicht die Besonderheit dieser zwei Jahre von den Schwestern verübelt worden war; glaub ja nicht, dass du was Besseres wärst…

Tatsächlich erfuhren wir, meine Schwestern und ich, erst, als wir erwachsene Frauen waren, von Friedchens und unserer Großmutter Geschichte, Bruchstücke der Geschichte. Aber nicht einmal soviel, dass wir hätten sagen können, ob es sich um Liebe oder Verliebtsein oder Überwältigung oder Gewalt gehandelt hat. Meine Mutter behauptete, sie wüsste selbst kaum etwas, nicht einmal den Namen der Familie von und zu Irgendwas, meine Großmutter habe darüber niemals gesprochen. Und dieses Widerstreben hat meine Mutter übernommen und auch an uns weitergegeben. Es ist der Halbschwester Amanda und ihrer Tochter zu verdanken, bei der Friedchen lebte und am Ende in ihrem eigenen Bette starb, dass dieser Punkt in Friedchens Lebensgeschichte überhaupt und zumindest in einigen Fragmenten aufgedeckt wurde.

Familiengeheimnisse! Wesentlich umfangreicher als die Familiengeschichten selbst. Und ich meine, man dürfte eher dankbar als entsetzt sein, wenn der Karton mit Knallkörpern, der in den Kellern und Kammern und unter den Betten steht, einem – lieber früher als später – um die Ohren fliegt.

Fest steht, zu dem Zeitpunkt, als wir, meine Schwestern und ich, neugierig geworden waren auf die Einzelheiten, war niemand mehr da, der unsere Fragen hätte beantworten können. Und so konnte dieser Teil einer Familiengeschichte auch nicht Teil einer lebendigen Erinnerung werden, sondern blieb im Verborgenen.

Und es bleibt die Frage, in welcher Weise meine Großmutter selbst Episoden ihrer Vergangenheit betrachtet hat, diesen Blick beispielsweise in ein anderes Land, eine ferne Welt. In welcher Weise der Blick in andere Lebenszusammenhänge als die ihrer dörflichen Existenz sie einmal inspiriert hatte oder verstört, im Geheimen in ihr fortlebte oder am Ende in der kargen märkischen Erde versandete.

Erinnerung ist ja nichts Statisches, Erinnerungen sind kreativ und aktiv, nicht passiv. Werden sie in die Passivität, ins Unsagbare verbannt, verkümmern sie, zerfallen in nicht mehr sagbare und miteinander verbundene Teile. Dennoch sind sie vorhanden. Und man weiß nicht, aus welchem Anlass oder durch welchen Impuls hervorgerufen sie urplötzlich aus der Versenkung auftauchen.

Einmal, ich muss zehn Jahre alt gewesen sein, führte mich meine Großmutter ins Kino aus, was zuvor noch nie geschehen war und nie wieder geschehen sollte. Und zwar nicht in unser vertrautes Kino Union am Ort, sondern in die Stern-Lichtspiele, ein kleines in den Zwanzigern gegründetes Tageskino mit etwas über 300 Plätzen, das bis 1968 existierte. Es lag unmittelbar am S-Bahnhof Friedrichstraße, genauer: Im Stadtbahnbogen 201.

Wir sahen Schwanensee mit der wunderbaren Galina Ulanowa. Über die Leinwand schwebten die Schwäne, und über uns donnerten und dröhnten ohrenbetäubend die S-Bahnen und die Fernzüge. Das kleine Kino zitterte und bebte. Es war beängstigend. Ich meinte, das Gebäude, die Bögen, die Schienen, die ganze Bahnanlage müsste über uns zusammenbrechen und auf uns stürzen und uns lebendig begraben. Unter mir schien der Boden zu knirschen. Ich fasste nach der Hand meiner Großmutter. Und dann gewöhnte ich mich und Galina, der Schwan, tanzte um ihr Leben und ihre Liebe.

Schwanensee ist für mich auf immer mit den im Minutentakt einsetzenden gewaltigen Erschütterungen und dem die Musik übertönenden Kreischen der Schienen verbunden. Und mit der anschließenden Stummheit meiner Großmutter, die mich immer noch bei der Hand hielt und in deren blassblauen Augen ich Tränen sah. Die vielleicht, mutmaße ich nun, einer Erinnerung entsprangen, einer fernen Sehnsucht, einer unbeantwortbaren Frage.

Viele Jahre oder Jahrzehnte später entdeckte ich auf einem Flohmarkt Galina Ulanowa von Franz Fühmann, 1961. Es hieß im Untertitel Lob der Vollkommenheit. Ich trug meinen Fund glücklich nach Hause. Und habe im Geiste meiner Großmutter die ersten Zeilen des Buches vorgelesen, die mich auf der Stelle in jenen magischen Augenblick zurückversetzten, da sich der Vorhang öffnete: Mondglanz auf den Kiefern, ein Ufer ragt steil, die Schwäne fliegen ein.

Wunderbarer Franz Fühmann, damals noch ganz einem schwärmerischen Stalinismus verhaftet, das Buch zu lesen war kaum erträglich.: War der Beruf der Tänzerin mit seiner Einheit von geistiger und körperlicher Arbeit, mit seinem Streben nach Vollkommenheit nicht wie eine Vorahnung des Kommunismus? Seltsames Los, dachte ich, Vorahnung der kommunistischen Gesellschaft zu sein und als einziger Beruf nicht teilhaftig ihrer erlösenden Befreiung von der schweren körperlichen Arbeit!…

Dennoch habe ich das Buch behalten und nicht während meiner kürzlichen gnadenlosen Durchforstung aussortiert. Ich habe so wenig Dinge, die mich, auf welch direkte oder mystische Weise auch immer mit den Träumen und Sehnsüchten meiner Großmutter verbinden. Und ich bin dankbar für diesen Moment, da sie eine ganz eigene Herzenssache mit mir zu teilen vermochte.

Alle Jahre wieder blättere ich in den grobkörnigen blassgrauen Fotos aus den fünfziger Jahren. Und gleich bebt die Erde.