.19. Wunderlich

Als ich begann, war alt sein in Zeiten von C das Thema, aber das Altsein hat sich an den Rand geschlichen, anderes war grad vordergründig; in meinem Kopf schaukeln so viele Geschichten – welcher Impuls entscheidet, welch eine sich in den Vordergrund erhebt. Es scheint doch einfacher gewesen zu sein, über das Alter meiner Großmutter und meiner Urgroßmutter zu schreiben. Man könnte sagen, die Tatsache, dass ich selbst nun alt bin, hat diese Geschichten in die Gegenwart gespült; schreibe ich über sie, schreibe ich in doppelter Weise über Aspekte meiner eigenen Gefühlswelten im Alter.

Es gefällt mir seit einiger Zeit von mir selbst zu sagen, ich würde langsam komisch. Während ich in meinen Sechzigern in den Wirrungen von etwas steckte, das ich Alterspubertät nannte (ich war sehr amüsiert, dass ich diesen mir erfundenen Begriff einige Zeit später bei Goethe las) fing ich an, mit verschiedenen Begriffen zu spielen, seltsam, schrullig, hinfällig, unerklärlich, sonderbar, älter, alt, greisenhaft …, wendete sie spaßeshalber auf mich an, beguckte sie von vorn bis hinten. Manchmal, ich erinnere mich, erhob ich mich übungshalber mit vielen Verrenkungen der Glieder und unerhörtem Ächzen und Stöhnen aus dem Bett, oder verharrte in zusammengesunkener Haltung auf der Bettkante, unfähig, den Mut zu einem weiteren Tag aufzubringen.

Ein Spiel eben, das mich reizte wie Verkleidungen; mit vier Jahren in hochhackigen Schuhen vor dem Spiegel. Nun allerdings habe ich mich genug eingeübt.

Wenn ihr findet, sagte ich damals zu den Töchtern, dass ich langsam wunderlich werde… Ja, sagten die Töchter interessiert, was dann?

Kneift mich, stoßt mich. Gleich lachten sie und kniffen und stießen mich.

Aber heute ist mir ein Wunderlichsein sehr willkommen und keinesfalls möchte ich dafür gekniffen werden. Was denn kann ich Besseres tun, als in jeder nur erdenklichen Weise ein Wunder durchzudeklinieren? Nur die Verwunderung hält dich wach, nur das Wundern lässt dich weiterlernen, erfahren. Und das Verwunderlichste von allem ist, dass das nie ein Ende hat: mithin Zukunft, etwas, das mir mitunter abhanden gekommen scheint, so dünn, so durchscheinend, so zipfelig.

Als ich Anfang März mit Petrine von der Ostsee zurückgekommen und ins Corona-Zeitalter gestürzt war, verwandelte sich Zukunft von einer abstrakten Gewissheit in eine ungewisse Abstraktion. Allein Sommer zu denken war wie ins Leere zu stolpern. Und auch jetzt ist es beunruhigend, Herbst zu denken. Winter.

Emmi und ich haben manchmal einander Hölderlin Die Hälfte des Lebens zitiert. Es passte uns in jedes unserer Alter und zu meinem 45. Geburtstag, ein rauschendes Fest, ebenso wie ans Grab von Emmis Mutter. Weh mir, wo nehm´ ich, wenn es Winter ist, die Blumen, und wo den Sonnenschein, die Schatten der Erde…

Ich lebe von einem Tag zum anderen. Das ist das Konkreteste, das ist das Fassbarste. Eine Woche ist denkbar. Für Anfang Juli stehen zwei Termine in meinem Kalender, der nahezu überflüssig geworden irgendwo herumliegt. Alles danach verschwindet bereits in der Irrealität.

Dieses neue seltsame Hier und Jetzt. Aber – es gefällt mir auch. Wenn Zukunft, beladen mit Erwartungen, Sehnsüchten, Ängsten, Hoffnungen nun im Undenkbaren auseinanderläuft, kommt es doch – vielleicht mehr denn je – auf dieses Heute an. Auf jeden Tag, auf die Intensität jeder einzelnen Stunde. Zumindest dann, wenn man nicht wie das Kaninchen auf die Schlange sich gezwungen sieht, auf eine Normalität zu starren, die, so denke ich, später – danach – nur in Versatzstücken an die Normalität vor C erinnern wird. Ist man dem verzweifelten Starren verfallen, wäre eine täglich neu einsetzende Gleichgültigkeit, die mit der Erlahmung aller Energie einhergeht, auszuhalten. Das muss schwer sein, schrecklich, beängstigend. Immerfort ein Warten auf Godot, das in seiner Unbestimmtheit und erschreckenden Unverständlichkeit die Absurdität des Hamsterrades offenbart.

Im Augenblick scheint mir das die Aufgabe zu sein, nicht auf ein Danach zu starren und starr zu werden darin, vor der ich mich täglich gestellt sehe, denn natürlich schwanke ich, bin voller Energie und möchte mich mit hundert Dingen befassen und lesen und drucken und zeichnen, und der Tag ist immer zu kurz – ehrlicherweise muss gesagt sein, der Tag ist überhaupt nicht kurz, im Gegenteil, er ist unendlich lang, weil ich so langsam geworden bin, weil ich viel weniger schlafe als früher; mein Tag hat 36 Stunden, ich bin in Alterszeit –, und dann wieder sitze ich auf der Bettkante und allein das Zähneputzen und Tagbeginnen sind Zumutungen. Und an den Nachmittagen hänge ich in den Seilen.

Die bedeutsamen Stunden, las ich bei Michaux, sind die bewegungslosen. Diese Bruchstücke angehaltener Zeit, gleichsam tote Minuten, sind das, was du wahrlich hast, was du wahrlich bist, da du sie nicht besitzt, nicht von ihnen in Besitz genommen wirst, so ohne Eigenschaften…

Eines der Bücher, die ich für mich nachgekauft habe, ist Umweg von Brakker. Das, was mich besonders beeindruckt hat, ist eine Variante der menschlichen Grundthemen, nämlich etwas zu tun, das gut ist und dauerhaft, ohne selbst auf ein Danach und eine Dauer zu setzen. In dieser Geschichte ist es eine Frau, krank, offenbar Krebs, die geflohen ist: vor dem Mann, der Familie, Freunden, allem, was ihr Leben bis dahin wichtig oder erfüllt oder sinnhaft gemacht hat. Sie beginnt, auf dem Anwesen, das sie derzeit bewohnt, einen Weg anzulegen und dessen Saum mit Rosen zu bepflanzen. Es ist Herbst. Im Frühjahr werden die Rosen blühen, aber sie selbst wird nicht mehr leben.

Das ist etwas anderes, als den Tag und die Stunde und die Gegenwart zu leben und auszukosten, das geht weit darüber hinaus, es ist ein gewissermaßen selbstloses Tun, ein Denken außerhalb der eigenen engen Bedingtheiten.

Heut wird gerne und nachdrücklich das Wort Nachhaltigkeit benutzt für all das, was aus dem Menschheitsdenken verschwunden zu sein scheint und das doch notwendigerweise über die eigene Generation, die eigene kleine Existenz hinausreichen sollte.

Ich halte das für die bemerkenswertesten Doppel-Aspekte eines Lebens: Bei sich sein und über sich hinausfühlen können, im Augenblick zu leben und über die eigene Zeit hinausdenken können.

 

Bella, die ich Jahrzehnte kenne, immer mit langem schwarzen Haar, immer mit großem Hut und roten Lippen, ist jetzt eine schöne Zweiundachtzigjährige. Sie sagt, sie erschrecke, wenn  sie auf ihr Gesicht in dem handtellergroßen Spiegel in der Küche trifft; mein Gott, diese ganzen Falten – das bin ja ich! Und, sagt sie, nach dem Schock bin ich´s dann doch wieder zufrieden, dass es jetzt ist wie es ist. Das Hilfsangebot ihrer jüngeren Freunde, in diesen C-Zeiten für sie einkaufen zu gehen, empfindet sie als nett, aber auch, wie sie sagt, von einem leisen Triumph begleitet. Dieser Triumph der Jüngeren sei ihr, sagt sie, ständig gegenwärtig, auf den Straßen, in der Bahn, und jetzt erst recht.

Helga war auf die Hässlichkeit des Alters fixiert, das Gorgonenhaupt, Medusa… So sah sie sich mit ihrer Zahnlücke, der beginnenden kahlen Stelle in der Mitte ihres Hauptes. Die hatte sie auf einem der Fotos entdeckt, die ich in Polen von ihr gemacht hatte, im Garten, in der Laube am Tisch sitzend, in einem schönen alten Kleid, mit der pinkfarbenen Bommelmütze, die sie auf einer unserer letzten Streifzüge erworben hatte, Kaschmir, KaDeWe, entsetzlich teuer. Das darf man ja niemandem sagen, sagte Helga und lachte während der Fahrt zurück nach Erkner, diese Verrücktheit! – mit jener auch im reinen Lachen bereitliegenden Verzweiflung. Denn nun war es vorbei mit den schönen Ausflügen in die Stadt – Diabetes, die Niere, die  Bauchspeicheldrüse, der Fuß. Jetzt ist es vorbei, sagte sie. Jetzt, sagte sie, stehe ich mit einem Bein im Grab.

Ja, sagte ich, und mit dem anderen im KaDeWe.

mein Herz aber wird zerfallen schade

Auf der körperlichen Ebene zeigt sich das Alter darin, dass nach und nach auf beinahe unmerkliche Art Stück für Stück deiner Anatomie ins Bewusstsein geraten, plötzlich hast du nicht nur ein Knie, das du dir mal in der Kindheit aufgeschlagen hast und das zwei, drei Narben ziert, sondern du hast täglich Knie, du hast täglich Bein und vor allem Rücken, du hast Ilio Sacral, vermutlich auch, wie behauptet wird, Faszien, verklebte, verschwiemelte Faszien. Deren Vorhandensein gräbt sich allmählich in deine Hirnstrukturen ein als Bewusstsein von etwas, das vor kurzem nichts weiter als Hintergrund war, elementare Voraussetzungen, selbstverständliche Basis für die wirklich wichtigen Dinge des Lebens. Ich weiß, dass mir Blut durch die Adern fließt, na ja, so soll es eben sein. Ohne das ist Denken, Tun, Handeln, Leben lieben nun einmal nicht möglich…

Nun aber Knie, Ilio Sakral, der Rücken… Und eines Tages sagst du dir, dass du täglich deine Übungen machen must…

Einmal, als ich mich in der S-Bahn von meinem Sitzplatz erhob, kam ich nicht in die Senkrechte, ich verharrte in einem in der Mitte abgeknickten Zustand und tat in dieser Haltung ein paar Schritte und war schon aus der Bahn raus und auf dem Bahnsteig, ehe ich mich aufrichten konnte. Ich weiß noch, dass ich verstohlen Blicke um mich warf, ob jemand diesen zerschmetternden Niedergang bemerkt hatte. Mittlerweile ist es mir gleichgültig; ich presse mir die Fäuste in die Seiten, drücke mich ganz ins Hohlkreuz, knirsche, ächze, dann geht es wieder.

Aber dieser erste Moment…

Einmal, während ich die Fotos für die Alben der Kinder sortierte, fiel mir eines in den Blick, das ich verwundert betrachtete: die kleine etwa zweijährige Tilly an der Hand einer Frau, deren Gesicht im Dunkeln lag. Es war unverkennbar die Hand einer alten Frau: mit Adersträngen und Falten und Furchen und Flecken durchsetzt. Wem gehörte sie?

Mir. Ich erkannte mich an den Füßen, an den damaligen einzigen Lieblingsschuhen, Wildledersandaletten mit Absätzen, schick und gemütlich und für barfuß, aber nicht elegant. Einen der Schuhe hat Tilly später in die Waschmaschine gesteckt. Sie waren dann wirklich nachhaltig ruiniert. Ich war Ende dreißig und hatte die Hände einer alten Frau, ich hatte die kleinen durchfurchten Hände meiner Großmutter; ich sah sie genau vor mir, auf der Tischdecke in ihrer Wohnstube, flach neben dem Haushaltsheft. Oder auf die Bank vor dem Haus gestützt, während wir mit den Beinen baumelnd so dasaßen. Es war die Haut von uralten verschrumpelten Äpfelchen.

Damals hatte ich alte Hände, heute beinahe unverändert ebenso. Und dazu vielleicht eine junge Nase, ein gänzlich altersloses Ohr, ein Gehirn, das zwischen dem einer Zehnjährigen und dem einer Achtzigjährigen mäandert. Was weiß ich.