.21. Auf eigenen Füßen

Seit einiger Zeit neige ich dazu, vornüberzukippen, wenn ich mich bücke, im Knien, aus der Hocke. Das ist nicht schlimm, die Fallhöhe gering, aber es reicht, sich ein paar Knochen anzuschlagen, die Hand zu verstauchen, sich die Seite oder den Rücken zu verrenken. Ich fiel in Rosengruben, kopfüber in den Johannisbeerstrauch, ich landete in der Minze und stieß mir den Kopf an der Tür vom Küchenschrank. Und auch dies: Eine heftige Drehung von links nach rechts oder umgekehrt reißt mich komplett von den Füßen. .

Ich kippe, ich taumel, ich strauchel, ich schwanke.  Es ist eine neue Erfahrung, ich seh mich altes Weiblein eben noch mit den Knien auf dem Kissen, in der Hand Schippe oder Schaufel oder Wischlappen, und schon steck ich mit der Nase im Sand oder im Teppichflor. Das ist lächerlich.

Sohn und Töchter wissen von nichts. Und als ich Gundel kürzlich davon sprach, teils verwundert, teils amüsiert, lachte sie auf (dieses seltsame ein Erkennen bekundende Lachen zwischen Stöhnen, Entsetzensschrei und Klage). Ihr Vater, sagte sie, fiel im Alter von einem Tag auf den anderen aus dem Stand nach hinten. Einmal geschah das auf der Rolltreppe, er riss zwei, drei andere Menschen im Fallen mit sich und landete mit geprellten Rippen und Platzwunden und einem Dutzend blauer Flecken am Fuße der Treppe, während ihre Mutter und sie gezwungen waren, bis zum Ende weiter zu fahren und dann auf der Gegenseite wieder zurück, betäubt von all dem Geschrei um sie herum und nach dem Allerschrecklichsten, das bereits geschehen war, ein noch bevorstehendes Allerschrecklichstes befürchtend.

Ich wünschte, ich könnte Helga davon erzählen. Ich kann mir gar nicht ausdenken, welch wüste Geschichte sie mir im Gegenzug auftischen würde. Ich bin ganz sicher, sie hätte von viel Schlimmerem zu berichten gehabt, von ganz abwegigen Angewohnheiten, die sich bei ihr im Alter eingestellt hatten, oder eine der absurden Suffgeschichten, die das bisschen Vornüberkippen in den Schatten stellen würden. Ich sehe uns auf den Stufen der Treppe in ihrem Haus in Polen sitzen und uns die Bäuche halten vor Lachen.

So wie an dem Tag, an dem sie mir von ihrem Verlöbnis mit Stefan erzählte, auch eine dieser Geschichten, die, ihr sicher nicht unbewusst, im Nacherzählen den Aspekt ihres Horrors vor einer Fußamputation in Folge der Diabetes variierte. Das Verlöbnis, eine wilde Feier, die am Nachmittag des einen Tages begann und sich bis in die Morgenstunden des nächsten hinzog. Als die Finsternis der Nacht in eine trübe Dämmerung überging, zogen Helga und Stefan mit einer noch beinahe vollen Wodkaflasche und immer noch bekränzt mit zerzausten Blumen los in Richtung Wald und Jagdhütte, kamen aber nicht weit, sondern landeten, indem sie sich gegenseitig im Torkeln zu Boden rissen, in einem Kornfeld. Und schliefen dort ein. Und erwachten von einem gewaltigen Dröhnen über ihnen. Krieg, Panzer, Tiefflieger…

Es war ein Mähdrescher, einer dieser riesenhaften Ungetüme, die in einer Umdrehung ein mittleres Dorf vernichten können. Wir sind mit den Armen fuchtelnd und schreiend aufgesprungen, sagt Helga, aber der Idiot in seiner Kanzel hat natürlich nichts gesehen und gehört, und ich dachte, wir schaffen es nicht bis zum Feldrand. Er hätte uns, sagte Helga, geradezu genüsslich die Worte dehnend, wie wir da so lagen von den Füßen angefangen bis zum Kopf hinwegmetzeln können. Wie sie das manchmal mit den Rebhühnern tun und kleinen Rehen.

Oder Kühen, sagte ich, ritsch, ratsch, weg sind sie. Weißt du noch, die Geschichte von Sostschenko über die Einführung des Flugwesens in der russischen Landwirtschaft?

Pferde auch? Erkundigten sich die Bauern besorgt. Gewiss, Genossen, gewiss.

Ich hatte jetzt nach monatelanger Pause glücklich wieder einen Termin bei Babette, Podologin, die Füße im sprudelnden Wasser, am Ende zart getrocknet, eingecremt, massiert. Welch ein Luxus! Den beizubehalten ich mir gönnte noch lange nach der Wiederherstellung meines Beins. Und wenn Babette wieder sagt, ach, was haben Sie für schöne Füße!, erinnere ich mich an Emmi, wie sie auf dem Bettrand sitzend auf ihre dünn und sehnig gewordenen Beine guckt und traurig sagt: Meine schöne Füße!

An dem Tag, an dem meine Mutter beerdigt wurde, brach ich mir ein Bein.

Eine ganze Woche lang bin ich in Berlin durch Schneestürme und Graupelschauer gejagt für eine bestimmte Art von Briefumschlägen. Der Augenblick ihres Todes und mein heftiges vollkommen kindliches Weinen, während ich weiterhin ihre Hand hielt, waren eine Woche her, und das Vermissen hatte noch nicht begonnen. Ich bin durch Schneematsch und über tausend Eispfützen geschlittert, um ein Foto von meiner Mutter und die Traueranzeige drucken zu lassen. Ich bin wie blind mit verschneiter Brille über Straßen gerutscht, haarscharf an ausscherenden Fahrrädern und kreiselnden Autos vorbei. Ich habe die Rückfahrt ins Wendland trotz umgestürzter Bäume auf den Gleisen, trotz fallender Temperaturen in den Zügen irgendwie überstanden. Und dann, am späten Nachmittag, als die ganze Familie auf mehrere Autos verteilt nach der Trauerfeier mit alten Freunden vor dem Haus meiner Schwester ankam, bin ich mit dem letzten, dem für diesen Winter allerletzten noch amtierenden Eishügelchen aneinandergeraten und lang hingeschlagen. Ich hab vor Schmerzen geheult, aber mehr noch, weil ich in der Sekunde, in der ich auf dem harten Boden aufknallte, wusste, dass ich den Abend statt mit der Familie, den Schwestern, dem Neffen aus Amerika, der Nichte aus Wien, meinen Kindern und Enkeln in genau dem Krankenhaus verbringen würde, aus dem meine Schwester und ich vor mehr als 14 Tagen meine Mutter herausgerettet und zum friedlichen Sterben nach Hause geholt hatten.

Ich erinnere mich so gut an den Augenblick der Erleichterung, als wir endlich diese Entscheidung nach einem längeren Prozess des Lernens und Begreifens hatten treffen können. Und wie ich dachte, dieses Krankenhaus wirst du im Leben nicht wieder betreten.

Der tägliche Kampf gegen den Einsatz von unnötigen Kathetern, Blutabnahmen, gegen die meine Mutter sich heftig wehrte, Ringen um ein Mindestmaß an Aufmerksamkeit und Achtung, dass die Patientenverfügung und die Gefühle und Bedürfnisse meiner Mutter respektiert würden… Wenn wir morgens auf ihrer Station ankamen, war wieder etwas gegen den erklärten Willen meiner Mutter geschehen. Nach diesen Erfahrungen haben wir in der Familie beschlossen, für alle Zeiten würde niemand und egal weswegen auch nur einen einzigen Schritt alleine in ein Krankenhaus tun.

Die Fahrt zurück nach Berlin in eine in der Nähe befindliche Reha war auch ein sehr spezielles die Bürokratie und das Wesen von Versicherungen beleuchtendes Unterfangen.  Ein Transport zu einer Reha in Berlin oder Umgebung wurde mir nicht genehmigt. Einen Reha-Platz kriegte ich aber. Mit viel Überzeugungsaufwand, ich hab mir den Mund fusslig geredet, ist es gelungen, meine Reise nach Berlin zu organisieren. Ich dachte, irgendwie würde ich schon in den Zug reinkommen und Ostbahnhof wieder raus. Ich musste unterschreiben, dass ich auf eigene Verantwortung und gegen den Rat des Operateurs mich selbst aus dem Krankenhaus entließ. Ein Taxi brachte mich und die krankenhauseigenen Krücken, die ich eigentlich dem Fahrer hätte dalassen müssen (hab ich aber nicht, sorry), zum Bahnhof, meine Schwester stopfte mich mit Hilfe des Schaffners in den Zug, das war das Schwerste, zwei extrem hohe Stufen waren zu überwinden; man kann sagen, ich bin in den Zug hineingekrochen, meine Schwester schob von hinten, der Schaffner zog mich auf die Beine, ein Platz fand sich für mich und mein ausgestrecktes Bein. Ostbahnhof nahm mich Suse mit einem Rollstuhl in Empfang und ein Krankentransporter schaffte mich in die Reha.

Diese Geschichte voller Symbolkraft und Ironie ist sozusagen der Vorspann für die Geschichte meiner Füße. Denn seit ich aus der Reha entlassen bin, gehe ich über die Straße regelmäßig zu Babette. Die jetzt natürlich wochenlang all ihre Zeit ihren eigenen Füßen widmen konnte. Ich jammerte, mein steifes Bein, mein steifes Bein… Aber siehe da, ich hatte es noch gar nicht so recht realisiert, aber die sporadische Gymnastik, mein tägliches Laufen, das sommerliche Schwimmen waren auch für mein rechtes Bein nicht ganz nutzlos gewesen. Indem ich meinen Fuß auf den Badewannenrand stellte und mich des Gleichgewichts wegen schräg an eine Kommode lehnte, kriegte ich es mit einigen Verrenkungen hin, mir die Fußnägel selbst zu beschneiden.

Man sage nicht, das sei nicht auch ein Thema in Zeiten von C.

Ich weiß, es gibt Schlimmeres, und im Vergleich zu den wirklich einschneidenden katastrophalen existentiellen Zuständen (den wirklich wichtigen Dingen des Lebens) usw. ist das geradezu lächerlich. Aber man muss doch auch sagen dürfen, dass das Leben alter Menschen zu einem nicht geringen Teil aus gerade solchen Banalitäten besteht, aus solchen alltäglichen Herausforderungen: die Treppen, ausfallende oder fehlende Fahrstühle, schwere Taschen, in eine Badewanne hinein-, aber auch wieder hinauszukommen. Das Haarewaschen, das Bücken, die Wohnung sauber zu halten, den Körper zu pflegen… Und ich will hier gar nicht davon reden, dass ich nach einer Stunde Unterwegsseins unbedingt ein Klo finden muss…

Gestern fragte mich Gundel, ob ich als leidenschaftliche Kinogängerin denn jetzt mal ins Freilichtkino gehen würde, das sich gleich hinter dem Bahnhof im Park befindet. Um Himmelswillen, sagte ich. Die schrecklichen harten Bänke. Und zu einer Zeit, da ich gewöhnlich ins Koma falle. Und dann in völliger Finsternis zurück. Die Taumelei! Da nutzt auch eine Taschenlampe nichts, überdies bin ich nachtblind, das potenziert den Schwindel; ich bewältige keinen Weg von nur 20 Metern. Es sei denn, ich würde kriechen.

Das Verhältnis zwischen Selbst und Körper erfährt im Alter eine Krise, sagt die Psychoanalyse. Der alternde Körper/Leib meldet sich vermehrt als biologischer Körper – in Krankheit, Begrenzungen, limitierten Möglichkeiten und Funktionen. Es bedürfe, so formulierte es Gabriele Junkers,  einer Wiederaneignung der eigenen Leiblichkeit im Alter statt einer Spaltung in „fit im Kopf“ auf der einen und eine altersbedingte „somatische Werkzeugstörung“ auf der anderen Seite.

Ja, so ist es. Das also wäre auch noch zu lernen.