.22. In Wahrheit

Aus der Straßenbahn strömen Menschen in Richtung S-Bahn. Eine junge Frau, vielleicht Mitte zwanzig, führt einen kleinen Jungen an der Hand, vier oder fünf Jahre alt. Je nachdem, wo sie herkommen, sind sie zwischen zwanzig und dreißig Minuten mit der Bahn unterwegs gewesen, dazu der Gang zur Haltestelle. Also haben sie gewiss vor sieben Uhr das Haus verlassen. Mutter mit Kind, täglicher Weg zur Arbeit, das Kind immer einen Schritt hinter ihr, am ausgestreckten Arm, beide still.

Dies Bild geht mir ans Herz. Und schleudert mich auf der Stelle mehr als fünfzig Jahre zurück, die Kinder in den Kindergarten bringen, danach zur Arbeit. Der Kindergarten befand sich in der Oranienburger Straße, wir hatten zwanzig Minuten Fußweg. Zu meiner Arbeitsstelle im Gebäude der Stadtbibliothek lief ich über die Friedrichsbrücke, ging an der Alten Nationalgalerie und dann am Berliner Dom vorbei, sodann quer über den weiten Marx-Engels-Platz, über den kalte Winde pfiffen.

Ich war immer in Eile. Eines der Hauptworte in der DDR war neben gesellschaftlich oder unserPünktlichkeit. Ich durfte keine einzige Minute zu spät kommen. Und das bedeutete immer Hetze, die Kinder antreiben, Atemlosigkeit. Es erlaubte kein bisschen Trödelei, hier was gucken, da stehen bleiben, auch wenn du noch so rechtzeitig aufbrichst.

Pünktlichkeit war oberstes Gebot, Unpünktlichkeit eine der sozialistischen Todsünden. Das galt selbst für die Allerkleinsten und das Sandmännchen: Morgen wieder, und seid schön pünktlich… Das hat sich verblüffenderweise bis heute gehalten. Ich traute meinen Ohren nicht, als ich einmal, Luzie war noch klein, mit ihr beim Sandmännchen landete: Und morgen schön pünktlich …

Einmal, es war an einem so sanften Herbstmorgen, die Luft schwer vom Duft nasser Blätter, ein milder Wind ging durch die fast ganz entlaubten Bäume, eine pfirsichfarbene Sonne leuchtete durch den Morgennebel. Ich stand vor den Stufen des Doms und konnte und konnte mich nicht von der Stelle rühren. Ich kam wohl an die zehn Minuten zu spät und die Leiterin des Instituts verlangte mit strenger Miene auf ihre Uhr weisend zu wissen, warum. Und plötzlich hatte ich keine Lust zu lügen, meine armen Kinder sollten nicht herhalten für eine Ausrede, ich wollte mir nichts aus den Fingern saugen, keine Übelkeit, kein umgeknickter Fuß, kein gar nichts. Da sagte ich, es sei so schön gewesen am Dom.

Eine Arbeitskollegin, die ich nach dem Fall der Mauer einmal besuchte, erzählte, die ganze Abteilung sei wie erstarrt gewesen und einige verstohlen erfreut. Und sie selbst habe verwundert gedacht, ach, so kann das auch sein, so etwas kann man sagen. Das habe sich ihr eingeprägt, sagt sie. Das sei ihr eine Ermutigung gewesen.

Ich erinnere mich gar nicht, wie die Institutsleiterin reagiert hat. Ich war still zufrieden mit mir. Und spürte, mir diente dieser Akt bescheidener Selbstbehauptung und ein kleiner Moment von Wahrheit der Wiederherstellung meiner Würde, die in einem entsetzlichen Geflecht von Zwang und Enge und Einschnürung noch der kleinsten menschlichen Freiheiten in jeder nur denkbaren Lebenssituation beständig bedroht war.

Gewünscht waren die Untertanen-Tugenden: Disziplin, Ordnung, Anpassung, Gehorsam… Allesamt Zutaten im verkohlten Brot der schwarzen Pädagogik von Vater Staat und Mutter Ideologie, an dem wir zu würgen hatten.

Ich weiß nicht, war es in just dieser Zeit oder ein wenig später, dass der ganze Freundeskreis Havels Versuch in der Wahrheit zu leben las. Eine erhellende und uns bestärkende Betrachtung so vieler unser Leben grundsätzlich berührender Zusammenhänge von Macht und Ohnmacht, von Klarheit und Verschleierung, von Hingucken und Weggucken. Das Leben tendiert in seinem Wesen zur Pluralität, zur Vielfarbigkeit, zur Unabhängigkeit, einfach zur Freiheit. Das totalitäre System dagegen verlangt monolithische Einheit, Uniformität und Disziplin.

Das Verstehen, sagt Susan Sontag, beginnt damit, dass die Welt nicht so hingenommen wird, wie sie sich dem Betrachter darbietet. Jede mögliche Form des Verstehens wurzelt in der Fähigkeit, nein zu sagen.

Das schwerste Nein, ich glaube in meinem ganzen Leben, galt einer Freundin.

Im Altgriechischen bedeutet philia sowohl Freundschaft als auch Liebe. In allen Zeiten ist Freundschaft, die Gemeinschaft von Solidarität und Vertrauen, das Salz der Erde. In schlimmen Zeiten ist sie oft die einzige Wahrheit inmitten eines Lebens von Lüge. Für Aristoteles ist die Freundschaft wichtiger Bestandteil einer funktionierenden Gesellschaft. Noch höher als Gerechtigkeit, verlangte er, solle der Staat die Freundschaft schätzen.

Es war Mitte der siebziger Jahre, ein Jahr später würde ich mit den Kindern die DDR verlassen.  Meine Wohnung war ein Taubenschlag. Vögel flatterten unentwegt herein. Auch Nebelkrähen und Geier im Federkleid der Ringeltauben. In biblischer Weise haben wir miteinander Brot und Wein geteilt.

Die dein Brot essen, werden dich verraten, ehe du es merken wirst. Denen, die davon erzählen, wie sie ausspioniert worden sind, bleibt noch immer der Bissen im Halse stecken.

Korfes war bei einem Fluchtversuch verhaftet und in die DDR entlassen worden. Das war ungewöhnlich; für gewöhnlich wurden die Republikflüchtigen von der Bundesrepublik freigekauft. Und es gab Geraune: sie hätte die Seite gewechselt, sie wäre umgedreht worden… Geflüster, Geraune, Verdächtigungen hat es immer gegeben, sie haben mein Leben begleitet. Irgendwann hatte ich beschlossen, darauf fürderhin nichts mehr zu geben, ich wollte so irgend möglich ohne Misstrauen und Argwohn sein, ich wollte nicht länger eingewickelt sein in die unendlich verschlungenen Fäden eines Denkens, das sich aus schiefen Blicken und einer mit Vorsicht belegten Zunge nährt. Auch wurde immer mal jemandem furchtbar Unrecht getan.

Natürlich lag mir nichts näher, als die Freundin nach einem langen Vermissen an mein Herz zu drücken. Und das tat ich auch. Und so saßen wir dann wie in alten Zeiten bei Rotwein und den Geräuschen einer nächtlichen Stadt beisammen und redeten und fragten und erzählten. Am nächsten Tag spürte ich aber einen falschen Ton nachhallen, irgendetwas Verschobenes, Unrichtiges… und ich fragte mich verwirrt und beklommen, ob mich nun doch das Geraune und Geflüster  eingeholt hätte, höchstwahrscheinlich von der Stasi selbst in Umlauf gebracht, wie sie das gern tat, um ein Klima von Verunsicherung zu erzeugen und ihre wirklichen Spitzel in Deckung zu halten. Und wollte es beiseite wischen, aber das gelang mir nicht.

Wenn sie zu mir in die Wohnung kam wie früher, war es nie mehr so wie früher. Ich spürte etwas, für das ich keine Worte hatte, eine Folge von Unstimmigkeiten. Dennoch misstraute ich mehr noch mir selbst als ihr. Ich sprach mit ihr, ich fragte sie, sie stritt ab.

Später, als ich mir diese Gedanken gestattete, fand ich, sie wäre nicht empört genug gewesen. Sie hätte vollkommen zerstört und verzweifelt sein müssen bei diesem ungeheuerlichen Verdacht!

Ich schrieb ihr von meinen zwiespältigen Gefühlen, davon, dass es mich zerrisse, wenn ich denken müsste, ihr hätte ihr Unrecht getan, dass ich aber auch gleichzeitig eine Falschheit in unseren Begegnungen spürte. Ich schrieb ihr, ich könne sie vorläufig nicht sehen.

Sie schrieb poetische Briefe zurück, und als ich im Westen war, telefonierten wir ein oder zwei Mal.

Ich hatte die Freundin längst verloren, bevor ich es wusste.

Sie hatte tatsächlich ihr Federkleid gewechselt, sie war IM Dorle geworden. Sie verfasste schlimme beflissene Berichte; besonders gemeine, weil wir ja einmal befreundet gewesen waren und sie der Stasi beweisen musste, dass davon nun kein Gramm mehr übriggeblieben war.

Gottseidank geht alles schnell vorüber, wo sind die Tränen von gestern Abend, wo ist der Schnee vom vergangenen Jahr?

Aber der Schnee ist uns in die Brust geschneit und taut nicht weg, sagt Biermann, und die Tränen gehen nach innen und versalzen uns das Gehirn.

Gestern bin ich in die S-Bahn gestiegen, bis zum Hackeschen Markt gefahren und über die Friedrichsbrücke an der Alten Nationalgalerie vorbei zum Dom gelaufen. Ich habe auf den Stufen gesessen und mir ein seltsam gelassenes Treiben eingeschaut. Kaum Touristen…

Neben mir saß die Sechzehnjährige, die kurz nach dem Bau der Mauer in Richtung Brandenburger Tor und der Welt dahinter schaute. Und an mir vorüber ging die Dreißigjährige, wirbelte mit dem Fuß Herbstblätter auf  und hielt ihr Gesicht einem pfirsichfarbenen Himmel entgegen.