.23. Von Tag zu Tag

    Montag

Da hab ich den Pirol gehört. Ich kann viel behaupten. In Wahrheit kann ich außer Amsel, Drossel, Fink und Star keinen Vogelsang vom anderen unterscheiden. Krähe erkenne ich noch, Elster an ihrem Gezeter – das zählt nicht.

Ich weiß nicht, welchen Vogel ich hörte, aber es war außerordentlich zu Herzen gehend  seltsam schön. Und dann, ich war schon auf dem Rückweg und lief zwischen Zäunen, saß auf einem Zaunpfahl ein König und rief so laut und herausfordern, dass ich stehenblieb und lachte. Er schrie weiter und drehte mir mit wippendem Schwanz den Rücken zu.

Vor Jahren schon hatte ich mir eine CD mit Vogelstimmen zugelegt und sie mehrmals gehört. Ich bilde mir ein, ich hätte ein gutes Gedächtnis für Melodien, aber die Zuordnung eines Vogels zu seiner ihm eigenen Stimme  – unerreichbar.

Es kriechen Winden über den Weg, bald ist er vollständig zugewachsen. Die Gräser auf den Weiden stehen hoch im Wind. Da lagern wieder die drei Wasserbüffel, ich wundere mich über Auswüchse am Kopf, überall auf den mächtigen Leibern, es sind, sehe ich beim Näherkommen, Diesteln; voller Diestelbüsche die Wiese.

Und dann der Pirol.

Die Bank, die monatelang so demonstrativ abweisend mit Flatterband umwickelt war, steht wieder leer da. Da muss ich gleich hingehen und mich einen Moment setzen. Eine Frau taucht hinter mir auf und sagt unfreundlich: Das ist eine Privatbank. Ich drehe mich ein wenig zu ihr: Danke, dass Sie sie müden Wanderern anbieten.

Sie sagt nichts und geht.

   Dienstag

Erst als ich schon auf der Straße bin, zum Laufen bereit, den Beutel umgehängt, Handschuhe an, Laufstöcke in den Händen … geht mir auf, was ich kurz vor dem Aufbruch zu mir selbst gesagt habe: Zähne rein und los!

So wie man sagt: Hut auf, Schuhe an, Jacke, Stock – und los.

Ja, also.

   Abend

Mein Abendessen besteht aus einer Handvoll grüner Bohnen, in einem Korb gezogen, aus ein paar Blatt rotem Mangold – Apfelkiste am Gartenhaus und Kasten auf dem Balkon. Und einer Portion Kartoffeln – Korb unterm Pflaumenbaum. Mein Garten ist klein. Du kannst sagen was du willst: der Geschmack ist unvergleichlich und in aller Bescheidenheit behauptet phänomenal herrlich köstlich. Schade nur, dass ich das alles, während ich auf den sonnenbeschienenen Balkon gucke, allein für mich schmecke und allein für mich denke. Später werde ich es den Töchtern erzählen und vielleicht Freundinnen. Aber manchmal und in diesem Moment …

   Mittwoch

Es hilft nichts, ich muss ran: Ich trage mein Kniekissen, Gartengeräte, einen Drahtkorb, Schere und Handschuhe zum Apfelbaum. Ich ramme einen kleinen transportablen Sonnenschirm in den Rasen. Ich knie mich nieder und beginne, all die Gräser und den kriechenden kleinblättrigen kilometerlangen Gundermann zu rupfen und zu zupfen und hinter mich zu werfen, ich arbeite mich weiter vor, und dann weiß ich nicht, wie ich wieder rauskommen soll, robbe rückwärts, zerknicke dabei fluchend diesen und jenen Stängel, verliere das Kniekissen, zerschramme mir die Knie und mir fällt ein relativ großer unreifer Apfel ins Kreuz. Dann strecke ich ein Bein weit nach hinten. Das fühlt sich im Gegensatz zu all den anderen Verrenkungen (Yogaübung kriechender um Gnade winselnder Hund, Yogaübung maulwurfhaftes Einswerden mit der Erde, Yogaübung mehrfach gedrehter und ums Überleben ringender Tausendfüssler) elegant an. Ich schwinge mich über die Beetbegrenzung, setze die Schaufel auf einen Granitstein und darauf gestützt erhebe ich mich und komme dann mit Schwung aus der Körpermitte und Kraft aus den Oberschenkeln nur wenig schwankend auf die Beine.

Ende dieses Vormittags.

Was ich ungerecht abfällig Gras nenne und es muss raus! rufe, sind in Wirklichkeit unterschiedlich geformte zitternde zarte Gewächse; ich habe keine Ahnung, ob es sich nun um das wollige oder das weiche Honiggras handelt, ich kann das wehrlose weder von der weichen noch von der aufrechten Trespe unterscheiden, dazwischen büschelweise ein aufdringliches Irgendwas. Vom Knäuelgras habe ich schon gehört. Vom sechskantigen Borstgras nie. Selbst wenn ich genau hinsehe, bin ich mir nicht sicher, ob sich das jüngste Blatt faltet oder ob es sich rollt. Und das lässt mich auch kalt. Aber ich wüsste schon gerne, ob ich den Wiesenschwingel oder das weiße Straußgras oder die Hühnerhirse um mich habe. Und bislang ist mir nicht gelungen herauszufinden, wie das Kraut heißt, das sich neben Klee am häufigsten in meinem Garten niedergelassen hat. Außer Quecke und Giersch selbstverständlich, über die ich kein weiteres Wort verliere. Auch wenn Jan Wagner ein Gedicht geschrieben hat. Die Gräser sind schön anzusehen, aber ich kann ihnen nicht erlauben, meinen Garten einzunehmen und komplett zu besiedeln (meiner Sprache nach offenbar außerirdische Krieger).

   Nachmittag

Das Gartenhaus ist zum Bersten mit heißer Luft gefüllt; Tilly und ich weigern uns, es zu betreten. Emil experimentiert allein mit der vom Dachbalken herabbaumelnden Schaukel. Und am Ende hat er das Seine gefunden: Bauch auf Sitz, sodass Arme und Beine schlaff vornüber und hintüber hängen, und schwingt sachte vor und zurück, vor und zurück, dann stößt er sich mit den Beinen ab und wieder schwingt und hängt er – wie hingegossen, katzenentspannt…

   Donnerstag

Meinem ältesten Enkel Valja (der Erstgeborene, er besteht darauf) werfe ich eine Idee über. Ich sage, ich trüge mich mit dem Gedanken an ein Großmutter-Enkel-Tattoo. Nach einer Weile verblüfften Schweigens sagt er: Cool. Und wie ich darauf gekommen sei. Ich kam drauf, weil Angie, die mir hin und wieder die Haare schneidet, selbst voller Tattoos und Piercings, in einem Salon arbeitet, der gleichzeitig Tattoostudio ist. Und einmal, es ist jetzt Monate her, saß ich inmitten dieser Abbildungen von wilden, schönen oder seltsamen oder obskuren Körperbildern und plötzlich war die Idee da. Jetzt, sagte ich, ist nur noch ein kleines und wirklich sinnfälliges und wunderbares Symbol zu finden für den mir liebsten und weisesten aller Weisheitssätze. Zum Beispiel. Den muss ich aber auch erst noch finden. Und dann…

   Donnerstag Abend

Mit einem Ohr höre ich Nachrichten, mit einem Auge gucke ich in den Fernseher. Ich will nicht wissen, was ich wissen muss, ich will nicht hören, worauf ich horchen muss, ich will wirklich und unter gar keinen Umständen sehen, was ich zu sehen habe.

Oh nein, und nicht auch noch diese gelbhaarige rotgesichtige Fratze!

   Nacht zum Freitag

Ich träumte, ich suchte mit anderen Menschen zusammen, es war wohl die Hausgemeinschaft, mit der ich zur Zeit die Gestaltung des Hinterhofs plane, den uns der Hausbesitzer als Wüste hinterlassen hat, Pflanzen aus. Wir liefen von Baum zu Baum, stämmige etwa zwei Meter hohe ausladende Kirschen. Ein Gärtner (der türkische Gemüsehändler vom Markt) nannte Namen. Und erst, als wir darauf warteten, dass unsere Bestellung zusammengestellt würde, fiel mir auf, dass wir versäumt hatten, nach dem Alter zu fragen. Die Bäumchen, die wir bekommen, dachte ich in plötzlicher Ernüchterung, werden nicht mehr als fingerdick sein und keinen Meter hoch; Stöckchen. Und heimlich begann ich bitterlich zu weinen, denn ich begriff, dass, wenn sie groß und stattlich geworden sind, die schönen Kirschbäume, ich längst gestorben sein werde.

   Freitag

Im Garten steht mein Sohn in einer Wolke von Feinstaub und schleift mit Leidenschaft Farbreste, Dreck und Leinöl von einer kleinen Bank. Und beendet eine Arbeit, der ich mich vor etwa 25 Jahren mit ebensolcher Leidenschaft hingegeben habe; daraufhin suchte ich das Foto, das mich im Hof unseres Bauernhofs im Wendland inmitten von abzubeizenden und aufzuarbeitenden und zu schleifenden Möbeln zeigt. Und fand es nicht.

Er trägt eine Kniehose aus Leder, die er sich in Ungarn oder in der Ukraine zugelegt hat. Eine ganze Seite in dem Album über seine Kinderjahre ist den Lederhosen seiner Kindheit gewidmet; sie hatten Träger und über der Brust zwischen den Trägern eine Art Latz, bestickt und mit Lederecken verziert. Die meisten Kinder in der DDR trugen Lederhosen, einerseits in Ermangelung von robusten Jeans, andererseits, weil sie einfach großartig waren, hübsch, unverwüstlich. Suse trug sie in Rot.

Auch mein Sohn ist in Arbeitsurlaub, eine ungewohnt lange Zeit am selben Ort statt in der Welt unterwegs zu sein; er verbringt ungewohnt viel Zeit mit der Familie, er kümmert sich um seinen dementen Vater, er schleift Möbel, er teilt mit mir das kostbarste Kürbiskernöl aller Zeiten, und immer halte ich Olivenbaguette, Schafskäse und Erdbeeren für ihn im Gartenhaus bereit.

Geradezu wahnhaft nehme ich Kreise wahr, Kreise, die sich schließen. In diesen Zeiten. Möbel, Lederhosen, Beziehungen, Rituale, sogar Wunden. Fortwährend wird etwas aufgebrochen und geschlossen. Als könne es gar nicht anders sein, entweder Flucht oder Aufbruch. Durchlässig geworden, dünnhäutig, noch durchlässiger, noch dünnhäutiger tasten wir Kanten ab, Umrisse, dringen ein in Schichten von Vergangenheit und Fragen nach den Zusammenhängen unserer Geschichte und der uns einschließenden Zeitgeschichte und Familiengeschichte und welchen Platz wir wohl darin einnehmen …

    Samstag

Zwanzigtausend Menschen mit aus den Fugen geratenen Ängsten und mollusken Weltbildern klumpen dicht an dicht und sämtlich unmaskiert durch die Straßen von Berlins Mitte. Die Zahl allein ist schon irritierend, aber man muss die Bilder sehen, eine wahnhafte Erregung wie kurz vor dem Kollaps, nach allen Seiten stechende Aggression. Die Menschen tragen T-Shirts mit der Aufschrift Corona ist vorbei.  Oder Tag der Freiheit. (Tag der Freiheit ist auch der Titel des Films von Leni Riefenstahl über den Parteitag der NSDAP von 1935.)

Sie recken die Fäuste, sie spucken beim Sprechen. Und was sich da mischt, Hass und Angst, Selbstbehauptung, Verwirrung, Kalkül und Trotz und Dumpfheit … Und weiß jeder, in wessen Nachbarschaft er da geht? Mehr Glauben als Wissen. Wir müssen alle miteinander reden? Was, auf diesem Nullpunkt der Artikulation? Und was, wenn es gar nicht um Argumente geht, um Sinn und Bedeutung?

Sie rufen einander zu: Wir sind achthunderttausend, wir sind eine Million! Sie sind bereit, jeden niederzumachen, der ihren Zahlen nicht glaubt.

Ein schwarzer Block aus Quedlinburg grölt: Wir sind die zweite Welle! Und ich fürchte, es könnte wahr werden und sie könnte mich überrollen.

Ein gigantischer Superspreader. Weiß Gott, das macht mir Angst. Schreckensbilder: eine aus dem Leim gehende marode Demokratie durch Leute, die behaupten, ihre demokratischen Rechte in Anspruch zu nehmen. Und gerade jetzt, in diesen Tagen, wo die Urlauber zurückkehren, wo die Zahlen der Infizierten wieder ansteigen, kurz vor Beginn der für die Kinder existentiell, emotional wichtigen Schulzeit…

   Sonntag

Emmis Tochter ruft mich am frühen Morgen an. Und wir reden über Vergangenes und darüber, wie es seine Schlingen in die Gegenwart wirft.

Am Ende sitze ich da wie mit Wehmut übergossen und in der durchaus nicht neuen Erkenntnis, dass sich, indem man weit Zurückliegendes von hinten aufrollt, die Lücken zeigen, die Löcher, das Nichtgefragte, Nichtgesagte, Nichtwahrgenommene. Hätte ich doch nur genauer hingesehen damals … ich hätte, ich würde…

Aber nein, leider, zu spät. Ich war eben nur die, die ich damals war. Und an Wahrnehmungsvermögen stand nur das bereit, zu dem ich damals fähig war. Das gilt auch für all das, was in Bezug auf die Kinderalben aufgebrochen ist: Die ich damals war.

Nicht mehr. Das mir jetzt erscheint wie ein Zuwenig. Müßig, damit zu hadern, dass an Zurückliegendem nichts verändert werden kann. Ich hader auch nicht. Aber dass ich mit Emmi nicht beisammen sitzen kann, um über diese Zeit und jene Episode und dieses Geschehnis und alles, was damit zusammenhängt, noch einmal zu sprechen, und noch einmal, das ist Verlust.

   Und wieder Montag

Es wird regnen, dem Himmel sei Dank …