Längere Zeit glaubte ich, ich würde an einer besonderen Geräuschempfindlichkeit leiden, Hyperacusis, aber dies war nur eins von vielen Symptomen, die Menschen befallen, deren Gehirne über eine gering ausgeprägte Filterfunktion verfügen. Das hat zur Folge, dass mehr Reize durchgelassen und verarbeitet werden müssen, als einem lieb und möglich ist. Und damit verbunden ist die permanente Gefahr von Überlastung durch Reizüberflutung. Menschenansammlungen, Straßengeschehen, Zeitdruck, Koordination von mehreren Dingen, Multitasking, grelles Licht … viel zuviel Welt fürs Gehirn.
Ich könnte Hunderte von Situationen aufzählen, in denen ich betäubt und überwältigt von gewöhnlichem Straßenlärm und um mich herum flutenden Menschen unfähig war, auch nur den nächsten nötigen Schritt zu tun und Mühe hatte, nicht auf der Stelle niederzusinken oder an einem fremden Hals in Tränen auszubrechen.
Ich besitze eine hübsche Sammlung von Ohrstöpseln, vielfarbig, verschieden geformt, aus unterschiedlichen Materialien. Ich habe mich durch alles durchprobiert, einiges vertrage ich nicht, auf Schaumstoff reagiere ich allergisch mit brennend heißen Ohren. Zu einer Maßanfertigung konnte ich mich noch nicht durchringen. Derzeit genügen mir kleine Grüne, aus weichen Silikonlamellen gefertigte. Die habe ich in Döschen neben meinem Bett, auf dem Tisch neben meinen Lesesessel, auf dem Schreibtisch. Und in meiner Handtasche trage ich sie immer und überall mit mir herum (aber dieses Überall – was ist das schon derzeit?)
Ich brauche sie zum Arbeiten, zum Lesen in der Bahn, für power napping und hundert andere Situationen. Und für den Balkon, weil eine Nachbarin die Angewohnheit hat, ihr Sommerleben vor offenen Fenstern zu zelebrieren. Sie hat eine durchdringende Stimme, die es mühelos bis zum Ende des Grundstücks schafft, da, wo die Gärten zu Ende sind. Sie redet unentwegt; kein Gedanke, der ihr durch den Kopf geht, ist zu banal, zu dumm, zu blöde, um nicht auf der Stelle laut ausgesprochen zu werden. Ihr von der Balkonbrüstung vorgebrachtes Geplapper gefällt sich hauptsächlich in hämischen, boshaften, herabwürdigenden Bemerkungen über andere Mieterinnen… Ich weiß, ihr Schönstes wäre, einer schlüge lang hin, seine Mülltüte bräche auseinander, er verlöre all sein Pappe- und Papierzeug, das er zum Container balancierte…
Usw. Usw. Ohrstöpsel!
Meine Gartennachbarin Anne ist eine verwandte Seele. Womöglich ist ihre Empfindlichkeit noch ausgeprägter. Und es tut gut, hin und wieder, alle paar Wochen vielleicht, ein ausgiebiges, mehrere Strophen umfassendes Klagelied anzustimmen zu – am Ende – gegenseitiger Tröstung und Ermutigung. Denn im Allgemeinen empfiehlt sich Zurückhaltung; Überempfindlichkeiten werden immer noch gerne höflich mit schrägem Lächeln übergangen.
Eine Zeitlang recherchierte ich nach Selbsthilfegruppen für an Hyperacusis leidende Menschen; die gibt es nicht gerade wie Sand am Meer, aber es gibt sie. Die Leute treffen sich oder kommunizieren per Mail und WhatsApp, sie tauschen sich über Kopfhörer und maßangefertigte Ohrschützer aus und darüber, wie sie das sie umgebende Chaos so weit handhaben, dass sie in ihm überleben können. Sie treffen sich zum Tag der Stille und zu weltweiten Lärmschutztinitiativen und schließen sich Bürgerinitiativen an, die gegen Lärm und Krach und all das, was mittels Dezibel auf unser Gehirn einhämmert, angehen. Denn das, dieser Dauerlärm in den Städten, Verkehr und Presslufthämmer, Gebrüll und allerorts Geräusche, die manch einer Musik nennt, ist durchaus nicht nur ein Problem für besonders geräuschempfindliche Naturen; die realisieren es nur stärker.
In diesen Zeiten partieller Zurückgezogenheit erscheinen mir das Geschwisterpaar Laut und Stille in einem besonderen Licht, ihr Vorhandensein nehme ich gleichermaßen wahr als zu viel und zu wenig. So viel Stille war noch nie. Aber der uns umgebende Krach noch nie so zerschmetternd. In meinen in sanftes Summen eingehüllten Garten brechen derzeit aus den umgebenden Grundstücken nervenzerfetzende Bauarbeiten an Gartenhäusern ein, panzerlaute Rasenmäher, kreischende Familienverbände klumpen an lauen Abenden.
Aber auch dies: durch den Mundschutz an ausdauerndem Handygequatsche gehinderte schweigende Menschen in den Bahnen, verträumte, entspannte Gesichter (so weit zu erkennen) – ganz wunderbar!
Einmal, auf der Suche nach einem Raum 43 A, Gruppe Hyperacusis, im zweiten Stock eines Gebäudes, in dem sich verschiedene Gruppen und Vereine eingemietet haben und in dem Versammlungen und Kurse stattfinden, verirrte ich mich hoffnungslos in den Gängen. Auf Raum 12 B folgte aus unersichtlichem Grunde Raum 26 C. Ein System zu erkennen war mir unmöglich. Gemurmel hinter verschlossenen Türen. Ein, zwei Male klopfte ich zögerlich und steckte meinen Kopf durch eine Tür, aber nein, hier bei diesen bärtigen Männern war ich nicht richtig, und dort bei den malenden Frauen auch nicht.
Am Ende landete ich in einem dieser unwirtlichen, aus Volkshochschulen vertrauten Räume, die dringend eines neuen Anstrichs bedürfen, deren Wände behängt und beklebt sind mit den bunten Hinterlassenschaften vorjähriger Kurse und längst verstorbener Vereine, und deren Mobiliar aus zusammengeborgten und ausrangierten Tischen und Stühlen und Regalen aus mindestens fünf Jahrzehnten unterschiedlicher Büroausstattung bestehen. Es war Raum 41 A und kam dem gesuchten so nahe, dass ich ihn – Oase in der Wüste, Fata Morgana – egal, herzlich willkommen hieß.
Mittlerweile ermattet und fußlahm reagierte mein ganzer Organismus dankbar und ergeben und bereitwillig auf erwartungsvolle Gesichter und enthusiastische Handzeichen. Ich ließ mich nieder auf dem Stuhl, den freundlich auf die Sitzfläche klopfende Hände mir zuschoben. Es war mir vollkommen egal, um was für eine Gruppe es sich handeln mochte; ich war entschlossen, sie für die richtige zu nehmen.
Nur den Vornamen bitte, sagten sie und wedelten mit den Händen, als ich zu meinem Nachnamen ansetzte. Und zeigten auf die Teekanne und hoben fragend Augenbrauen.
Und nun entfaltete sich ein mir bislang nur aus Filmen bekanntes Prozedere: Ich heiße Alex und bin Alkoholiker. Jubel, Schulterklopfen.
Nun denn, in diesem Falle: Ich heiße Franziska, und ich bin Spielerin.
Ich liebe lässliche Lügen. Und es war mir ein Leichtes, ganz undramatisch aber spannungsreich meinen Werdegang als süchtige Zockerin zu entwerfen und vor gespannt lauschender Gruppe auszubreiten. (Ach was, Lüge. Jede halbwegs Kreative ist vom Gestaltungstrieb, der nichts anderes als Spieltrieb ist, besessen. Und eine Geschichte ist eine Geschichte ist eine Geschichte…)
Ich blieb, und als ich später darüber nachdachte, erkannte ich den Grund. Ich blieb, nicht nur, weil ich zum Bleiben entschlossen gewesen war, ich blieb, weil in dieser Gruppe ein existentieller Ernst herrschte. In solchen Menschenverbindungen geht es nicht um Meinungen und Deinungen, um Ansichten und Argumente, um ein gedachtes Für und Wider, es geht um einen Daseinszustand, auch einen Leidenszustand, dem explizit Wahrheit innewohnt. Darum fühle ich mich richtig, wenn ich an Trauerreden arbeite, in der Arbeit im Hospiz. Es verbieten sich Vages und Oberflächen und Eitelkeiten. Sucht ist so ausschließlich wie ein Tumor. Kein Drumherumgerede, kein Ausweichen, keine Plapperei. Wenn es Orte gibt, die so etwas nicht aufkommen lassen, kann ich sehr gut da sein.
Warum erinnere ich mich gerade jetzt wieder an diese Spieler-Geschichte? Weil ich einem Vonmirabrücken so fern gar nicht bin, weil ich mich immer wieder vor mir weglaufen sehe, ob mit Hilfe einer Sucht oder einer anderen Besessenheit. Gerade jetzt, gerade in dieser Zeit: – noch nie war Konzentration und Selbstbesinnung so notwendig, noch nie ein Abdriften von der Realität so verführerisch. Noch nie war so viel Welt und gleichzeitig ich so klein.
Bin ich zufrieden in meinem Arbeiten, ob Schreiben oder Drucken, Entwerfen oder Zeichnen? Ja. Die Kinder, die Enkel. Freundinnen und Freunde. Korrespondenzen. Entdeckungen, Experimente. Bach hören. Auf dem Balkon schlafen. Im Garten unter den Rosen. Ja. Und dann verlege ich Manuskriptseiten. Dann mach ich alles, alles, selbst die Wanne scheuern, nur um nicht am Schreibtisch zu sitzen. Dann stehe ich ratlos und traurig im Garten und habe vergessen, warum Blüte und Biene und Sonne und weiß nicht mehr, was Glück ist.
Auf dem Nachhauseweg stand ich in der S-Bahn neben einem der Spieler, einem koreanischen Juniorprofessor für Computertechnik mit schönen Mandelaugen. Wir hielten uns an den Haltestangen fest und schleuderten zueinander hin und voneinander weg und redeten irgendwas. Mir gefiel es, mit dem Stoff und dem Geruch seiner Jacke in Berührung zu sein. Ich erinnere mich an das heftige Bedürfnis, mein Gesicht an sein Jackenrevers zu legen, in Halses Nähe. Ostkreuz musste ich aussteigen, und in der Verabschiedung streiften sich unsere Wangen und dann unsere Münder zu einem verwischten Kuss. Wir lachten beide. Dann streckte er die Hand aus und riß meinen Kopf an seinen und küsste mich richtig und nickte dann und ich stieg aus.
……