.25. Den Nektar sehen

Beinahe, dachte ich verwundert, habe ich vergessen, was Laufen ist. Laufen auf Waldboden oder einen Sandweg entlang, auf einem Feldweg, neben dem Flüsschen mit seinen Enten und Bibern und den dicht unter der Oberfläche dahintreibenden Opheliahaaren.

An den heißen Tagen eher Schwimmen als Laufen, dann war auch das Schwimmen im trüben lauwarmen und von stachligen Schlingpflanzen durchzogenen See unerfreulich. Dann gar nichts. Nur meine mit träger Unlust vollzogenen Übungen – Hüfte, Iliosacral, Faszien …

Ein bisschen Pflastertreterei, ein bisschen Bewegung im Garten. Stubenhockerei, während der Luftreiniger mit leisem Summen sein Werk tat, und ich mit nassen Tüchern bedeckt schlaff in den Polstern hing (ein angefeuchtetes Buch in den matten Händen).

Beinahe, dachte ich heute verwundert, habe ich vergessen, wie nötig mir das Laufen ist, die Magie der gleichförmigen Bewegung, notwendig für meine innere Balance. Als wirbelte jeder Schritt ein Denken und Fühlen auf, das zuvor erkaltet und verhärtet im Gemüt und in den Hirnwindungen festklebte. Die Gleichzeitigkeit von Selbstvergessenheit und Einssein mit sich selbst… Und die Augen, als säßen sie mir paarweise am Hinterkopf, auf der Stirn, zwischen Hals und Haar. Und die Ohren, als hätten sie sich auf den gesamten Körper ausgedehnt. Und nähmen auf: die Stille, den Wind, die Lebensgeräusche von Gräsern, Insekten, den Kühen, den Vögeln…

Aufladungen, Glück in Mikrodosen…

Am Sonntag: Emil, der vor der blühenden Sonnenblume steht, die sich von ihrer Höhe freundlich herabneigt, so dass er den Kopf in den Nacken legend in die Blüte hineinguckt. Und sagt: Ich kann den Nektar sehen.

Und später, als ich wieder allein war im Garten und die Kissen wegräumte, und dann, als ich ins Haus ging, zog ich die Worte wie einen Faden hinter mir her: Ich kann den Nektar sehen. Und erst am nächsten Tag, ich kam vom Einkaufen und traf Irene, mit der ich über Ermutigung und eine Bemerkung von Handke sprach (und gib uns täglich unsere Zuversicht), da erreichte mich der Satz wie ein Appell, als Beschwörung, als Ermahnung: Und sieh ihn, sieh ihn täglich, den  Nektar.

Nektar und Ambrosia, Göttertrank und Götterspeise. Seelennahrung. Die inneren Ressourcen füttern. (Und ich weiß wirklich nicht, warum der Wackelpudding, geliertes bebendes Zuckerwasser, Götterspeise genannt wird.)

Das alles, Nektar und Ambrosia, das Mikroglück, die tägliche Aufforderung, die tägliche Selbstvergewisserung, die Zuversicht, die Ermutigung haben wir bitter nötig, sowieso und  immer, aber jetzt besonders, während die Welt durchdreht. Meine liebste Barbara in Washington sagt, sie zitterten alle dem Wahltag entgegen, alles hielten sie für möglich, Bürgerkrieg, Wiederwahl. Ich selbst zittere mit den Frauen in Belarus, schicke ihnen täglich mit Kraft und Entschlossenheit aufgeladene Gedanken. Völlig nutzlos. Aber wiederum kann ich mehr nicht.

So wie ich das Laufen vergessen habe, vergaß ich auch die Eintragungen in mein goldenes Buch, das von Glück und Schönheit handelt, ich vergaß mein Wolkenbuch, in das ich Wolken und Himmelsbilder zeichne und in dem ich Wolkenbilder und Gedichte von anderen aufbewahre, Richters Seestücke, Enzensbergers  Geschichte der Wolken

Offenbar vergaß ich alles, was mir gut getan hätte. Dazu kommen ungewaschene Haare, bekleckerte T-Shirts. Wenn ich rausgehe, Hut auf, Maske an, unkenntlich gemacht. Und vier Wochen kein Wort geschrieben… Du lässt dich gehen, sagt meine Mutter von ihrer Wolke herab. Geht es allerdings mit mir durch, ist es ihr auch nicht recht. Geh in dich, geh in dich.

Unser Leben scheint vorzugsweise aus dem Gehen zu bestehen, von vorn bis hinten in allen Lebenslagen durchdekliniert. Geh aus mein Herz…

Nichts geschieht ohne Grund. Und dass ich so viel vergessen habe,  hat  mit Vergesslichkeit in neurogenetischem Sinne rein gar nichts zu tun. Oder vielleicht doch? Vielleicht in der Hinsicht, dass, wenn Isolation auf Alter trifft, der Hyppocampus schneller abbaut? Wenn Zurückgezogenheit auch Zurückgenommenheit bedeutet? Wenn seltener mit Bus und Bahn beweglich und seltener unter Menschen zu sein auch eine innere Bewegungsarmut einleitet?

Pass auf dich auf, sagen wir zueinander, Freundinnen, die Kinder, zum Abschied, wenn wir telefonieren, wenn wir uns treffen: Pass auf dich auf. Und wir antworten, ja, mach ich. Und das sagt sich nett so dahin, und wir meinen es ja auch so. Wir sind gewillt, sagten neulich Irene und ich einander, mehr denn je, auf uns selbst zu achten. Doch einfach ist das gerade nicht, denke ich. Nichts ist einfach (und wer sagt denn, dass wir einen Anspruch auf das Einfache haben, das Leichte, das schnell und mühelos Gelingende?).

Den Nektar sehen hilft. Und ich will nicht vergessen, das in mein goldenes Buch zu schreiben, das als Buch über das Glück begann und sich sofort in eins über Schönheit entwickelte.

Und so sieht es aus: Unten und oben Pappdeckel in den Maßen 18 x 22 cm, bedruckt und bemalt, zusammengehalten von vier Ringklammern. Mittlerweile ist es angewachsen auf 40 bis 50 Doppelseiten, ich habe sie nicht nummeriert. Das Innenleben: Zeichnungen, Notizen, Zitate aus Büchern, aus Artikeln, Titel von Büchern (Glück und Architektur), Fotos, die Enkel, der Garten, der Briefwechsel zweier Kriegsberichterstatterinnen: Recht hat sie! Erst kommt das Überleben, dann die Schönheit; aber manchmal braucht es auch die Schönheit, um zu überleben… (Alice Bota, Andrea Böhm). Philosophinnen (z.B. die wunderbare junge Svenja Flaßpöhler) und Philosophen. Kant: Vergänglichkeit und Melancholie sind Teile der Schönheit… Oder: Schönheit ist Anstiftung zum Ausbruch.

Ich schrieb von Hoffnung, Gewissheit und Zuversicht und kleinen Glücksmomenten. Und das alles, um nicht unterzugehen in Krach, Dreck, Verwüstung und Chaos. In meinem Hinterhaus und im Vorderhaus wurden die Dachgeschosse ausgebaut, Fahrstühle an Außenwände geschlagen, ein mehrgeschossiger Neubau – Vorderhaus, Seitenflügel, Hinterhaus – auf dem Nachbargrundstück errichtet, und über die Länge beider Grundstücke eine Tiefgarage von der Größe eines Handballfeldes gebaut. Die Gartenhäuser auf dem Nachbargrundstück wurden abgerissen, die Obstbäume gefällt. Über Tage war ein Trupp slovenischer Bauarbeiter mit kreischenden Motorsägen unterwegs und metzelten jeden Strauch, jede Blume, alte Ahornbäume, riesenhafte Birken hin… Der bunte Park vor meinem Balkon verschwand, gelber und roter Hartriegel, die Blutbuche, die rosa blühende Zierpflaume…

Zunächst hieß es, mein Garten wäre nicht betroffen, dann aber hatten die Töchter und ich gerade ein paar Stunden Zeit, Sträucher und Stauden auszugraben und an das Ende des Gartens, an den Zaun zum Nachbarn zu pflanzen und in Sicherheit zu bringen. Den kleinen Apfelbaum umhüllten wir mit Flatterband. Und schon begann die Zeit der Zerstörung, bis zum allerletzten Meter des Grundstücks war nun die Erde bedeckt mit Eisenstangen und Säcken, mit Baumaterial und schwarzen und weißen Erdhügeln, mit schweren Maschinen, mit Stapeln von Hölzern und Steinen. Früh am Morgen zerschnitten Bagger und Hämmer und heulende Sägen die Stille, und Scheinwerfer die Dunkelheit.

Für zwei Jahre würde ich keinen Vogel mehr hören.

Meine Nachbarinnen und ich, wir standen verstört auf unseren Balkonen und weinten.

Die Hausfassaden samt der Balkone wurden mit Gerüsten versehen. Vorhang.

Mir setzte das monotone Summen und Brummen der unterschiedlich großen Bagger zu; das Geräusch wuchs sich zu einer Bedrohlichkeit aus. Gerti, die unter mir wohnt, verfiel in eine Depression. Als mich das Geschehen bis zu meinem Garten hin in eine andauernde Alarmbereitschaft versetzt hatte, wusste ich, es war allerhöchste Eisenbahn, eine Strategie zu ersinnen, die Zeit bis zum Ende der Bauarbeiten mit intakten Nerven durchzustehen.

Kein Wahnsinn, keine Tränenflüsse, keine Jammerei.

Ich verbat mir, zum Garten hinüberzustarren. Augen zu und durch, ich verdränge. Ich beschloss, das Geschehen um mich her als das zu akzeptieren, was es war, ein simples Bauunterfangen mit einem absehbaren Ende. Und erst dann, wenn alles vorbei ist, erst dann werde ich den ersten Schritt in den Garten tun. Nicht alleine; ich werde die Töchter zur Unterstützung dazuholen und ich werde nichts, was früher war, beklagen, sondern mich über jedes Grün, über jede Pflanze, über alles, was die Verwüstung überlebt hat, freuen. Punkt.

Und ich war gewiss, ich würde auch in dieser Zeit, so schrecklich und so lang sie einen anmutet, Trost und Freude finden. Es würde Sternschnuppen geben und die kleinen in einem explodierenden Glücksaugenblicke. Und ich dachte mir, ich würde jeden einzelnen festhalten wollen im Buch. Die goldenen Stunden schrieb ich auf die erste Seite.

Nicht nur zur Erinnerung und Würdigung, sondern vor allem, weil durch den reinen Akt des Aufschreibens und Beschreibens die Dinge eine dauerhafte Bedeutung erhalten und damit Wirkung entfalten.

Meine erste Eintragung galt einem Paar Eichelhäher, das durch die Gerüste spazierte, um sich auf meinem Balkonbett niederzulassen und die Umgebung zu beäugen, so, wie sie es seit Jahren taten. Meine zweite war die Niederschrift einiger Zeilen von Rimbaud:

Ich habe sie wiedergefunden.

Wen?

Die Ewigkeit.

Es ist das Meer,

das sich mit der Sonne zurückzieht.