.9. Back To Black

Heute habe ich nicht wie in den vergangenen Tagen meinen Tag mit Bach begonnen, sondern mit Amy Winehouse. Als ich aufwachte, hatte ich Back to black im Ohr. Und hab es mir dann gleich laut angehört. Und ich beschreite einen schweren Weg. Meine Chancen stehen schlecht. Und dann, hinter der vorletzten Strophe dieses langgezogene und tastend fragende und sehnsüchtig mehrmals wiederholte und dann abschließende  back, back, back…

Einmal hat Oli mir bei irgendeiner Computersache geholfen. Hilfe klingt, als hätte ich zumindest irgend etwas selbst getan, aber in Wirklichkeit habe ich nur dabei gesessen, gekocht, meinen Sohn bewundert, bin heiter hin und her getigert. In Wirklichkeit bin ich nicht nur völlig ahnungslos, es dringt gar nichts auch nur für einen kurzen Moment in mein Gehirn ein. Erklärungen prallen ungewürdigt an mir ab; ich sehe, wie sie auf mich zufliegen, aber kurz vor dem Ziel rieseln sie zu Boden. Ich bin nicht ignorant. Und seit ich vor vielen Jahren auf Rat meines jungen Liebhabers „Zen und die Kunst, ein Motorrad zu warten“ gelesen habe (er spielte Akkordeon, fuhr Motorrad, war Anfang zwanzig, ich Anfang vierzig), war ich für immer darauf eingestimmt, meine ganze Aufmerksamkeit den Dingen, die gerade getan werden, zuzuwenden. Kindern und Enkeln zitiere ich gerne Flaubert: Man muss eine Sache nur lange genug betrachten, um sich für sie zu interessieren. Die Innenwelt des Computerwesens steht vor meinem geistigen Auge wie ein von meinem Leben vollkommen abgetrenntes Universum; deren Außenwelt benutze ich hingegen herzlich gerne. Nichts Kompliziertes, die einfachen Dinge; ich kann Manuskripte und Emails verfassen, Fotos verschicken, mich bei Ebay rumtreiben, nach den Anweisungen professioneller Herumturner über Youtube meine Hanteln schwingen und Gymnastik machen, stundenlang im Grimmschen Wörterbuch blättern, googeln…  Damit bin ich zufrieden.

Ich vergesse Passwörter. Ich vergesse, dass ich mir Passwörter aufgeschrieben habe. Ich vergesse von Mal zu Mal, dass Passwörter existieren. Niemand, Tilly nicht, Sohn, Schwiegersöhne nicht,  Computerretter Thilo nicht – alle können sie nicht aus ihrer Haut und müssen mir das eine oder andere trotz meiner Abwehr erklären; ich höre höflich zu, bemüht, von der Leere in meinen Augen mit Blinzeln, Lächeln, Nicken abzulenken. Das ist traurig und ich bin nicht stolz darauf. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.

Nach dem Was-immer-es-war  habe ich Oli in mein geliebtes hundertjähriges Kino eingeladen. Es war 18 Uhr – meine Lieblingszeit. Wir saßen oben in der zweite Reihe – meine Lieblingsplätze. Ich glaube, wir waren fast allein – mein Lieblingszustand. Und wir sahen  „Amy“ von einem gewissen Kapadia. Wir waren uns einig: Ein schlechter Film, flach, von vorne bis hinten reißerisch, dieses genüssliche Drama-Drama der Yellow Press, als gäbe es nicht Drama genug in dieser Lebensgeschichte.

Aber wir sahen diese schöne junge kluge Frau mit der Stimme einer fünfzigjährigen schwarzen Jazzsängerin auf der großen Leinwand. Und allein das war atemberaubend. Jahre später kamen auf ARTE andere Dokus, interessantere, von Mitgefühl und  Begreifen und Respekt getragen. Ich erinnere mich an eine ergreifende Szene: Amy, gerade von Drogen weg in einer Konzertpause, sie hat einen Preis bekommen, ihre Freundin ist aus dem Häuschen vor Freude, aber Amy sitzt wie ein kleines enttäuschtes Mädchen mit gesenktem Kopf hinter der Bühne und sagt: Ja, ja, aber weißt du was, ohne Drogen macht das alles keinen Spaß!

Und das war unendlich traurig. Vielleicht habe ich da zum ersten Mal wirklich den Unterschied von einem starken Gefühl zu einem ekstatischen und zu einem von Drogen hervorgerufenen Highsein begriffen. Und dass man dann in der Welt, wie sie ist, nicht mehr zu Hause sein kann. Und nicht in sich selbst.

Einmal dachte ich, back to black  hätte ich gerne zu meiner Beerdigung. Dann dachte ich, ach nein, da habe ich ja nichts von. Und zu meiner Beerdigung vielleicht Sting und die Schubertlieder. Und zum Sterben bitte Silence von Samuel Barber und die Chaconne von Bach, wenn es sich einrichten lässt. Und sowieso Bach und immerzu Bach.

Die Töchter ermahnen mich, sie sagen, ich solle mich nicht irgendwelchen dunklen Fantasien hingeben. Gerade jetzt sei es wichtig, seine Gefühle, Furcht und Besorgnisse aller Art auszubalancieren. Es sei Unsinn, wenn ich sagte, jetzt ins Krankenhaus zu kommen, würde mein Tod sein. Krankenhaus bleibe immer noch Krankenhaus. Höchstens die Keime. Sag ich ja. Die Töchter warten mit Zahlen auf. Ich weiß das alles. Und habe meine dunklen Stunden deswegen und dennoch. Es ist ja gut, sagen sie, wenn du aufpasst. Also, fall bitte nicht von der Leiter und stürze nicht und stolper nicht. Ist gut, sage ich, mach ich nicht.

Ein Priester aus Neapel sagte dem Guardian über den Stimmungswandel in Italien: Sie singen oder tanzen nicht mehr auf den Balkonen. Jetzt haben die Menschen mehr Angst – nicht so sehr vor dem Virus, sondern vor der Armut. Viele sind arbeitslos und hungrig.

Was passiert mit den vielen toten Menschen, werden die noch im Krankenhaus kremiert? Das kann nicht sein, wie ahnungslos ich mal wieder bin. Also alle in Sammelbussen ins Krematorium. Dann sah ich Bilder aus Italien und New York, Kühlwagen, einer am anderen vor den Krankenhäusern aufgereiht. Und Massengräber für die Armen.

Das nächstgelegene Krematorium ist das in Baumschulenweg. Da fand auch die Kremation von Emmi statt. Ich hatte ihr eine weiße Glockenblume auf den Sarg gelegt. Aus einem Spalt am Sargdeckel guckte ein Zipfel weißen Stoffs hervor. Wir, die Familie und ich, saßen eine Weile voneinander getrennt, jeder für sich und schweigend. Und sahen später zu, wie der Sarg in die Feuer fuhr und wandelten in der Wandelhalle still umher.

Es ist siebzehn Jahre her, dass Emmi mir schrieb, sie sei heute im Krematorium Baumschulenweg gewesen, einer Schauspielerin wegen, die sie kenne. Sie schrieb, das Krematorium sei sehr zu empfehlen, ein schöner neuer Betonbau der Kanzleramts-Architekten Axel Schultes und Charlotte Frank. „Eine Halle mit scheinbar ungeordnet herumstehenden Säulen, die in Lichtkapitellen enden; in der Mitte ein Wasserbecken mit – so kam es mir jedenfalls vor – kugelförmiger, ruhiger Wasseroberfläche, über der ein weißes Marmorei schwebt; dann ein angenehm proportionierter Feierraum, in dem die Sitzreihen auf die gläserne Außenwand gerichtet sind, der grün-metallicfarbene Aluminiumlamellen vorgeblendet sind; durch die sieht man hinaus auf eine Baumlandschaft – dadurch entsteht eine ruhige, fast meditative Stimmung, man ist konzentriert für sich und doch zusammen mit den anderen.“

Dies, Emmis Kremation und ihr Brief, haben sich ineinander geschachtelt. Als würde eine Stimme sagen: Emmi, vierzehn Jahre später wirst du selbst hier aufgebahrt sein, und es sind die Augen der Anderen, die durch die gläserne Wand blicken. Und sie werden den Feierraum angenehm proportioniert finden und die grün-metallicfarbenen Aluminiumlamellen bemerken und das marmorne Ei bewundern… Und schon wieder dieses Innehalten in einer Zeitspirale, und ein warmer Schmerz, der diesmal der Lebenden gilt.  

Ich fürchte, dass im Falle mich dieser Virus erwischt, gar keine Musik spielt. Und dass ich auch nicht das schwarze Nachthemd tragen werde, das ich kürzlich eigens gekauft habe, um nicht wieder wie beim letzten Mal mich meiner löchrigen Shirts zu schämen, sondern einen am Rücken auseinanderklaffenden Kittel. Aber heute ist heute. Stunde um Stunde. Tag für Tag. Und ich gehe laufen, hin zu den Enten und Kranichen, dem Kuckuck, dem aufgebrochenen Frühling, dem ungestörten Himmel. Und am Abend trinke ich ein Schnapsglas vom Zitronen-Knoblauch-Elixier zur Stärkung der Abwehrkräfte (30 Zehen Knoblauch klein hacken, 5 bis 6 Biozitronen mit Schale zerkleinern, in einem Liter Wasser kurz aufwallen, dann stehen lassen und durchs Sieb gießen und in Flaschen füllen. Geschmack und Geruch von Knoblauch gehen völlig in den Zitronen auf). Und ich werde zwei Töpfe Schnittlauch und eine Clematis auf meinen Balkon pflanzen. Und Bach hören, zum Abend die Chaconne mit Gidon Kremer (You Tube). Ein Stück Musik, eine der größten Menschheitsleistungen überhaupt, wie Brahms sagte, das mich immer ergreift und immer rettet.