.8. Rosen ausweichen

Als ich heute an dem kleinen Fluss Erpe mit seinen alten Korbweiden an den struppigen Ufern  unterwegs war, fühlte ich mich von entgegenkommenden Familien mal wieder so bedrängt, dass ich, als ich wieder zu Hause war und meinen kleinen Garten am Ende des Grundstücks aufsuchte, einer Rose ausgewichen bin, der, die gleich vorgeneigt am Eingang steht. Einer Rose! Werde ich künftig das Ausweichen so in meinem Gehirn verankert haben, dass ich mir am Ende nicht mal mehr mir selbst begegne?

Das, meine Emmi, würde dir gefallen, dachte ich, als ich mich im Altenburg festgelesen hatte. Das unansehnliche schwarze Reclambändchen habe ich weggeworfen. Heute kam die schöne gebundene  Ausgabe von Hanser.  Es hätte dir gefallen zu einer früheren Zeit, als du noch nicht so besetzt von deinen Vorträgen warst, als du noch nicht nur und ausschließlich in den Nächten  Paustowski gelesen hast: „Ziemlich unglücklich fühlt man sich an Sommerabenden in der Hauptstadt. Wie zurückgesetzt. Wie übergangen. Zum Beispiel gehe ich abends durch die Praterstraße. Wie wenn ich und die Passanten bei der Lebensprüfung durchgefallen wären und, während die guten Schüler die Ferien genießen dürfen zur Belohnung, wir aber dürfen nur träumen…“

Bei der Lebensprüfung durchgefallen. Ob wir vielleicht alle grade dabei sind, durchzufallen? Bestehen wir sie? Bewähren wir uns? Und als was? Wer ist der Prüfer? Kafkas Hausverwalter? Gott? Ein Club, bestehend aus Imre Kertesz, Agota Kristof und Paul Celan, Gott hab sie selig? Oder ist „Prüfung“ aus dem Fundus der schwarzen Pädagogik herausgefischt? Aus unserem Wortschatz ist aus gutem Grund das Prüfen für ein In-sich-gehen verschwunden. Drum prüfe, wer sich ewig bindet…? Allzu viel Strenge.

Emmi – meine Emmi, ich muss dich jetzt mal zart und unbedingt einführen. Ich muss dich jetzt an meiner Seite haben! Ich will dich bei mir wissen. Wir ahnen nicht, wie alles ausgeht. Ich denke daran, wie Du gestorben bist, umhegt und umliebt. Und wenn ich  sterben muss, dann wird das einsam geschehen, und niemand wird mir beistehen. Davor fürchte ich mich am allermeisten. Von einem solchen Szenarium haben wir über Jahre gesprochen, ohne dass uns jemals etwas Ähnliches wie Corona auch nur in den Sinn gekommen wäre. In den Sinn kam uns der Verlust unserer Kräfte, unserer Autonomie, ein unwürdiger Tod inmitten eines Aufgebots von Gerätschaften. An einen so elendigen wie den, der in den Bildern aus Italien in meinen Kopf gestiegen ist, dachten wir nicht: auf dem Bauch liegend, in einem Krankenhauskittel, der die Rückseite entblößt, umgeben von Marsmenschen, die Nase im Dreck…

Ich bin am Ende, schrieb Helga mir einmal, ich weiß bloß nicht, an welchem.

Wenn ich an dich denke, Emmi, dann immer auch an diesen einen Tag, an dem ich weinte, und du vor meinem Kummer zurückgewichen bist, dein Gesicht ausdruckslos, was war das in deinen Augen? Zorn? Rührte er daher, dass ich frech ein Dasein haben würde, ein Danach, ein Dann, eine Zukunft, ein Später? Und dass wir uns längst nicht mehr am selben Ort befanden? Einige Tage danach, du hast kaum noch gesprochen, du lagst auf der blauen Liege, auf der Du dann auch tot gelegen warst, fragte ich dich, ob es vielleicht so sei, dass du dich an einem Ende eines Tunnels befändest, hingegen wir anderen am anderen Ende. Ich spürte diesen Schacht, diese Endloshöhle, ich spürte diesen Sog hinein, ich ahnte, dass es dieser Ort war, an dem sich deine Existenz abspielte und wohin dir niemand wirklich folgen konnte. Bei aller Liebe nicht. Aber was weiß ich schon? Wer bin ich schon? Nur eine Lebende, weit weg, die keinen Zugang hatte, keine Berechtigung, keinen Grund, an deiner Seite zu sein? Aber es gab ja diese Seite nicht mehr. Zumindest das hatten wir gemeinsam, das Paradoxon, dass wir jede für sich an einem Faden festhielten, der uns zwar nicht verband, aber auf irgendwelchen verschränkten Bahnen im Irgendwo zusammenhielt. Du hast genickt und ja gesagt. Ja, so sei es. Und für einen Moment, aus der Bekräftigung der vollkommenen Abtrennung heraus, waren wir doch beisammen und sahen uns in die Augen und hielten uns einen Moment bei den Händen. Ja, wir sahen uns in die Augen, das hielten wir beide aus.

Ich habe aufgeräumt, ich habe in alten Briefe gelesen. Emmis Briefe befinden sich in einer Mappe aus schön bedrucktem Karton. Gerade, schrieb sie einmal, habe sie das Ding mit der Kuh gelesen, das sie mir nun kopiere und schicke, und das sie über all die Jahre immer wieder entzückt und gestärkt habe. Das ist so lange her, Emmi war junge Studentin, die Kinder waren klein. Emmi war von irgendetwas, das sie später selbst nicht genau bestimmen konnte, wohl Überdruß der Phraseologie wegen, Maximus-Leninus bis in den letzten Winkel unserer Hirnwindungen gestopft…, dermaßen angeödet, dass sie in einem Akt der Selbstrettung durch Absurdität an die Tafel schrieb: Die Wissenschaft ist eine Kuh, die Kuh macht: Muh. Emmi wurde denunziert und nahm ergeben von einem zornesgeröteten Dozenten ihre Bestrafung entgegen, die nicht Bestrafung hieß, sondern Einsicht und Selbstkritik. In der Form, in der so etwas damals üblich war, als Selbstbezichtigung, als Unterwerfung, als Buße. Sie hatte drei Tage Zeit, eine schriftliche Erklärung zu verfassen, bevor sie zum Dekan zitiert würde. Ach, sagte ich, als Emmi mit hängenden Armen auf der Ecke eines Stuhles in meiner Wohnung saß, ach, das mach ich dir. Und klapperte auf der Schreibmaschine einen kleinen Text.

Den hatte ich jetzt nur kurz überflogen und sofort erfreut aus der Mappe genommen und an einen sicheren Platz getan, um ihn auch für die Kinder-Alben zu verwenden. Seitdem suche ich ihn. Und suche.

Die Wissenschaft, maulte der junge Benjamin als Erstsemester, sei keine heilige Kuh. Und wenn doch, sei am besten der Einsicht zu folgen, die er nun erlangt habe: Die Wissenschaft ist eine Kuh, die Kuh macht: Muh/ Ich sitz im Hörsaal und hör zu!

In meiner kleinen Reueschrift, die in einem von tiefem Begreifen und demütiger bekümmerter  Scham gehaltenen Ton angelegt war, ist viel von sozialistischen Kühen die Rede, deren weltfriedliches Muhen dem Grasen auf zutiefst humanistischen Weiden entwachse, mithin von grundsätzlich anderer Qualität wäre als das tumbe Muhen der dummen Kühe im ultrareaktionären Westen… Was auch wären wir ohne Kuh? schrieb ich. Und es ist ein Unterschied zwischen jedem, auch zwischen der Kuh.

Walter Benjamin war in der DDR nicht geschätzt. Obwohl er mit Ernst Block und Brecht befreundet gewesen war, waren seine Marxismusvorstellungen mit den orthodoxen der DDR nicht kompatibel. Wolfgang Harich ließ wissen, es wäre eine arge Verirrung, würde man Benjamin zur theoretischen Begründung des sozialistischen Realismus heranziehen. Von da aus wäre es nur ein kleiner Schritt zu Nietzsche, und von dort zum Faschismus.

Was für eine Idiotie!

Emmi starb in der Nacht zum 13. Oktober. Der Tag, an dem mein Oli seinen 50. Geburtstag feierte. Ich verbrachte den Tag an Emmis Bett sitzend, trank Tee mit der Familie, sprach mit diesem und jenem in der Küche und lief am späten Nachmittag in die Dunkelheit der Straßen. Ich wusste nicht, ob der Traurigkeit der vergangenen Monate durch nun die Endgültigkeit des Todes mehr und andere Traurigkeiten hinzugefügt worden waren. Ich befand mich in einem merkwürdigen Zustand von innerer Stille. Erst Tage später, als ich Emmi einmal aus der U-Bahn steigen und sie ein andermal quer über eine Straße gehen sah, als mehrmals ihr Hut mit der Antenne daran in einigem Abstand vor mir her schaukelte, als das Niewieder, das Nie, das Niemals Einzug hielt in meinen Kopf und sich in alle Nervenenden verästelte und sich dauerhaft festsetzte, erst da setzte der Prozess des Danach ein und mit ihm die Verlassenheit.