.7. Wut und Balance

Plötzlich schießen drei Killerenten auf mich zu, gefolgt von einer kreischenden vierten. Sie fliegen haarscharf über meinen Kopf hinweg. Ich stolpere, ich strauchel, ich kann mich dank meiner Laufstöcke fangen. Das fehlte noch, lang hinschlagen, womöglich auf mein schmerzendes Knie, und dann ins Krankenhaus. Mein aktueller Alp.

Den teile ich offenbar mit vielen anderen Menschen. Ärzte in Krankenhäusern beklagen dies als fahrlässiges und unnötiges Verhalten, weil Menschen, die bei bestimmten Symptomen, Herzschmerzen etwa, Anzeichen von Infarkten, länger als sie es normalerweise getan hätten, abwarten und zu Hause bleiben. Und dann so spät kommen, dass sie nicht mehr gerettet werden können. Ärzte wandeln durch leere Gänge, auf den Erstehilfe-Stationen tut sich nichts.

Ich denke aber, diese Ängste vor dem Krankenhaus haben ihren Ursprung nicht in der Corona-Krise, sondern sind über viele Jahre hinweg gewachsen angesichts eines sich von einer staatlichen Sozialeinrichtung zu einem Wirtschaftsunternehmen mutierenden Komplexes… Das ganze Gesundheitssystem ist durchkapitalisiert, kaputtgespart. Personal, Betten abgebaut. Diese Daseinsfürsorge, sagt der Medizinethiker Prof. Maio, hat die Politik aus den Augen verloren. Es kann nicht darum gehen, Kapital aus der Not von Menschen zu schlagen. Da wird sich etwas ändern müssen.

Nach den Killerenten begegne ich freudlosen Joggern, die ihre Bahnen ziehen, ohne sich um rechts oder links oder gar Abstand zu scheren. Und dir blind von Schweiß ihren Atem entgegenkeuchen. Paare oder Freunde nebeneinander, die Abstand voneinander halten, so dass keiner mehr für mich übrigbleibt und ich wieder in die Büsche springen muss. Einmal bin am Ufer des Baches ausgerutscht und beinahe ins Wasser gefallen. Ein Entenpaar beäugte mich bereits verdrossen. Fahrradfahrer, die meinen, sie wären so weit oben in der Atmosphäre, dass sie sorglos in die Welt niesen können und sowieso ihre Armbeuge für anderes brauchen.

Den Weg von meinem Haus bis hinter den Bahnhof, da, wo bald das Landschaftsschutzgebiet, wie es heute statt Naturschutzgebiet heißt, beginnt, bahne ich mir mit Hilfe meiner Laufstöcke, die ich lässig zu beiden Seiten halte, um sie hin und wieder, wenn ich in Bedrängnis gerate,  aufzuklappen wie Ruderpaddel. Dass zu schätzungsweise achtzig Prozent ich es bin, die ausweichen muss, macht mich wütend. Es macht mich wütend, dass ich fast von der Tochter meiner Nachbarin umgerannt werde, vom Sohn einer anderen auf der Treppe…

Ich lebe am östlichen Berliner Rand. Und der Ort ist am Nachmittag in diesen Tagen bevölkert wie an Wochenenden, alles flaniert die Hauptstraße hoch und runter, klumpt sich vor dem Eisladen, sucht und findet einen Tisch auf der Straße. Dass sich da nicht auch Menschen zusammenballen, liegt am zornigen Einschreiten des Cafépersonals, die nach draußen verkaufen dürfen, aber ihre Stühle mit Ketten umwickelt haben. Ich sehe Großmütter und alte Männer mit ihren Enkelkindern. Sie alle halten nichts von Abstand. Sie sind nicht (alle) ignorant oder gar uninformiert, sie sind einfach nur entschlossen unbekümmert.

Ich studiere gerne die an den Ladentüren angebrachten Notes: Leider, Corona, wünschen Gesundheit, baldiges Wiedersehen… An der Tür zum Friseur steht: Auf Anordnung der Regierung mussten wir schließen. Wenn das nicht eingeschnappt klingt?: An uns liegt es nicht, dass wir Ihnen nicht mehr in den Nacken husten dürfen. Wir persönlich würden ja …

Auch das macht mich wütend. Ich bin wütend, weil mir diese Sorglosigkeit und Ignoranz Angst macht. Auch so ein Satz macht mich wütend: „… damit an die Stelle von Vorschriften wieder der Verstand treten kann.“ Als sei es die Vorschrift, die es zu bekämpfen gilt, nicht das Virus. Verhandlung: Liebe Vire, wenn die ihren Laden öffnen dürfen, dann darf ich doch in Urlaub fahren? Und wann endlich geschieht dies, geschieht das? Diese ungeduldigen Schreie nach Normalität! Arbeitsplätze verschwinden, Existenzen sind bedroht, Suizide nehmen zu… Da wird es doch wohl möglich sein, dass wir das Wenige tun, das wir tun können! Ich verstehe ja das Bedürfnis, wir alle sehnen uns. Aber die alte Normalität wird es nicht mehr geben. Ein Zurück in eine vermeintlich sichere Zeit scheint nicht möglich zu sein. Und das sollten wir uns wünschen. Wir sollten uns wünschen, dass in dieser Zeit etwas in Bewegung kommt, das man kreative Erneuerung nennen könnte. Die Ethikprofessorin Christiane Woopen in einem Interview auf Phoenix: Wir haben alle die Sehnsucht nach der alten Banalität des Alltags und einer Normalität, aber wir haben z.B. auch viel Kritik geübt, soziale Gerechtigkeit, Klima, ökologische und soziale Nachhaltigkeit… Wenn wir diese Dinge jetzt kraftvoll angehen, dann haben wir aus dieser Krise etwas sehr Kreatives gemacht.

Ich stecke voller Wut, ich bin geradezu von Wut perforiert; man drücke an irgendeiner Stelle und schon spritzt es aus allen Löchern. Mich macht der Anblick einer vor einem Zaun und mitten in der Landschaft stehenden vollkommen in Absperrband eingewickelten Sitzbank ungeheuer wütend. Ich frage mich, ob alle Idiotinnen und alle Blödmänner gegenwärtig noch idiotischer und noch blöder sind. Männer mittleren Alters, die mit trotzig erhobenem Kinn alles ignorieren, was sich außer ihnen sonst noch in der Welt bewegt. Die es fertigbringen, sich noch an der aus einem Bäcker kommenden Frau in der Tür vorbeizudrängen.

„Ich habe viele Ängste“, sagte Louise Bourgeois einmal in einem Interview, „aber Aggressionen wirken sehr befreiend. Ich fühle mich überhaupt nicht schuldig – erst am nächsten Morgen dann. Deshalb bin ich gewalttätig, und es bereitet mir ein phantastisches Vergnügen, alles kaputtzuschlagen. Am nächsten Tag bin ich total zerknirscht, aber währenddessen genieße ich es. Ja, wirklich … Ich versuche dann zu erreichen, dass man mir verzeiht, aber bei der nächsten Provokation geht es wieder von vorne los.“

Ich mag mich nicht besonders, wenn ich rumschnauze und Leute anblaffe. Und diese Sache mit meinen Laufstöcken: auch wenn ich ein liebliches Lächeln aufsetze und in die Welt schicke, ist es doch unverkennbar ein aggressiver Akt. Immer sage ich, wenigstens einmal im Jahr muss man ins Ausland fahren, damit man wieder ein Gefühl kriegt für Freundlichkeit in der Öffentlichkeit, für Gelassenheit; das betrifft einen selber ja auch. Das Gedrängel auf der Rolltreppe und überall da, wo Menschen zusammentreffen, das Geschiebe und Gerempel. Und irgendwann, Vorsicht, das nämlich ist die Falle, rempelst du empört zurück. Also: um sich selber immer wieder auszubalancieren, ist es gut, sich in anderen Zusammenhängen aufzuhalten, und wenn man dazu sonst wohin fahren muss. Jetzt kannst du nirgendwohin fahren und bist dir selbst ausgesetzt. Und lernst dich wieder kennen. Nicht neu, aber in einzelnen kleinen Segmenten. Und eben auch deinen Kleinheitskram, das, was in dir eng ist vielleicht und verknittert… Ich habe gelernt, dass Wut ein Wegweiser ist. Dass sie nicht nur vom aktuellen Ereignis bestimmt ist, sondern auf tiefere Schichten von Verunsicherung, Angst, Konflikten weist. Kant zufolge ist es gerade unsere Freiheit, die uns zur Moral befähigt. Handle, sagt er, nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde. Ja. Ich weiß. Können vor Lachen.

Einmal, als ich Helga im Krankenhaus Buch besuchte, wir verbrachten lange Nachmittage in der Kantine, die wir aus Gründen der Abwechslung Sylt nannten, fanden wir keinen Tisch und mussten auf die Terrasse, es war kalt. Ich half Helga in ihre Jacke und verhedderte mich in meiner. Ich wurde so wütend, ich begriff, ich war wütend auf Krankheit und Heimsuchung, auf Abhängigkeit, auf Ausgeliefertsein…, auch wenn es gerade in dieser Situation viel weniger mich und viel mehr Helga betraf. Ich schrie: Himmelherrgott, ich bin im falschen Ärmel! Ich hab das ganze Futter von meiner Jacke zerrissen!

Das Gefühl, sagte Helga, kenne ich. Ich war auch immer im falschen Futter. Mein ganzes Leben lang. Und das in allen Farben.