.6. Blaue Augen, roter Mund

Briefe in meinem Briefkasten, richtige mit einer Briefmarke, handschriftlich mit meinem Namen und der Adresse versehene, beleckte und zugeklebte. Wie eine Liebeskranke drücke ich den Brief von Luzie an mein Herz. Und ich bin eine Liebeskranke.

Blaue Augen, roter Mund, liebe Omi, bleib gesund!!!

Dazu mit Buntstift rot ausgemalte und dann ausgeschnittene Herzchen und gelbe Sternchen.

Danke, meine Luzinde, liebliches Kinde.

Leena, Emils finnische Großmutter, lebt allein in ihrer hübschen Wohnung in Frankfurt. Seit sie im Ruhestand ist, kommt sie ein paar Mal im Jahr nach Berlin. Und sie ist es gewöhnt, ein paar Mal im Jahr nach Finnland zu ihren drei anderen Enkeln zu fliegen. Wenn sie in Berlin ist, machen wir Ausflüge mit Emil und gehen in Ausstellungen und Museen. Jetzt wandelt sie allein an den Ufern des Main entlang. Im Februar, als die große Monet-Ausstellung im Barberini eröffnet wurde, sprach ich Leena davon. Da gehen wir zusammen hin, sagte ich. Aber nun gehen wir nirgendwo gemeinsam hin.

Verabredet aber haben wir uns doch: 14.oo Uhr im Barberini! Per TV, RBB. Es war ein Sonntag. Ich habe einen kleinen hässlichen glutenfreien gummiartigen Kuchen gebacken, der übel nach Olivenöl schmeckte (ich hatte keins der empfohlenen neutralen Öle im Haus) und mir überhaupt nicht bekam. Wir haben unseren Kaffee bereitgestellt; ich meinen Getreidekaffee, Leena ihren Bohnenkaffee. Da saßen wir also, wir zwei Alte (entschuldige, Leena, du bist ja noch gut ein paar Jahre jünger als ich) vor unseren Tivi-Apparaten in Berlin und Frankfurt und folgten gemeinsam der Führung durch eine Ausstellung, Bild für Bild.  Dann haben wir uns zusammentelefoniert und darüber gesprochen, wie man es eben macht bei einer Gemeinsamkeit und fanden, wir hätten einen gelungenen Nachmittag gehabt, lobten den Kurator, jammerten ein bisschen über die simple bekannte Tatsache, dass keine Abbildung das bloße Auge ersetzen könne. Bis zum nächsten Mal, sagten wir hochzufrieden. Dann in echt, sagten wir.

Leena erzählte bei dieser Gelegenheit, Teddy hätte als Schulaufgabe bekommen, seine Großmutter in Deutschland anzurufen und für sie etwas zu malen. Und wir befanden, es sei sinnvoll, solche Schulaufgaben in die Zeit nach C zu überführen.

Gestern habe ich einen Bericht über die Arche gesehen, vom letzten Tag, bevor sie ihre Türen  schlossen. Und wieder denke ich, es sind die Kinder, täuschen wir uns da nicht, die am Schlimmsten und am meisten zu entbehren und zu leiden und mit den Folgen zu tun haben werden.

Ich denke, es könnte in diesen Tagen wichtig sein, die Briefzusteller und Paketboten nicht zu überlasten mit dem ganzen sinnlosen Zeug, das so in der Welt unterwegs ist. Deshalb halte ich mich mit Bestellungen zurück, habe nur die unwichtige Wandfarbe für die Küche gekauft und ein paar Tuben Spachtelmasse sowie einen wichtigen neuen Lippenstift. Aber vielleicht ist das Unsinn und wir sollten im Gegenteil bestellen, was das Zeug hält, natürlich nicht bei Amazon, sondern bei den kleinen Firmen und Anbietern, die ums Überleben kämpfen.

Schon immer habe ich den Paketboten Geld gegeben dafür, dass sie mir Pakete vor die Tür schleppten. Jetzt erst recht. Das Geld falte ich in ein Stück Papier (so wie es früher, vor meiner Zeit, gehandhabt worden ist, wenn der Leierkastenspieler durch die Höfe zog) und befestige es mit Klebeband an der Wohnungstür: Für den Paketboten. Danke. Quittieren muss man in diesen Zeiten nicht. Man kriegt sein Zeug vor die Tür gestellt, fertig.

In den letzten Tagen bin ich zweimal durch den ganzen Ort gelaufen bis hin zum See. Pflastertreten, nicht optimal für mein Knie, aber es sollte sein, es war mir ein Bedürfnis. In Vorgärten gucken, in Fenster. Menschen beim Leben zusehen. Und ich vermute, das hat mit dem Wunsch zu tun,  sich einer Stadtteilgemeinschaft zu vergewissern, die derzeit unkonkret wird, eher zu wissen als zu empfinden ist. Ich treffe niemanden zufällig wie sonst, unterwegs zum Markt, in den Straßen.

Offenbar, konstatiere ich amüsiert,  bin ich nicht die Einzige, die ihre Wohnung oder ihr Leben durchsortiert hat; vor den Häusern und an den Zäunen stehen Kartons und Kisten: Zum Mitnehmen, zum Verschenken..

In fünf Metern Entfernung vom mit Flatterband umspannten Spielplatz im Park finden sich Gruppen von Kindern ein, spielen und lagern auf Decken. Nähert sich ein Spaziergänger, gibt es Alibi- und Täuschrufe von Erwachsenen: Abstand halten! Die Kinder spritzen für fünf Sekunden auseinander, um sich sofort wieder fröhlich aufeinander zu stürzen. Und ich sage mir, sie haben es noch gut. Und denke an die Kinder, die zu Hause eingesperrt sind, die nichts Grünes oder eine Spielstraße vor dem Haus haben… Es heißt, die häusliche Gewalt steige um ein Dreifaches.

Ich gehe einmal um den Spielplatz herum – hier haben schon meine Kinder gebuddelt, wenn sie ihre Großmutter besuchten. Heute ist er besser ausgestattet, mit bunten vielartigen Klettergestellen, Balancebalken, einem Geschicklichkeitsparcour…

Der Spielplatz steht bereit für mich, denke ich verträumt. Ich könnte mich mit zwei, drei anderen Alten in geziemendem Abstand einfinden, Bälle über die Tischtennisplatte jagen. Wir könnten balancieren üben und schaukeln. Alle elegant mit Stock, Maske, Hut und Handschuhen. Wir wären sicher vor rempelnden Flaneuren, den unentwegt in Handys spuckenden jungen Männern und dem nächsten Kleinkind, das einen mit seinem Laufrad zur Strecke bringt.