Hiermit führe ich ein: Fallengelassen und aufgeklaubt. Meine heutige Ernte während der Morgenwanderung, große Tour im Naturschutzgebiet:
1. Frau auf Fahrrad zu Frau auf Fahrrad: Und sie sagt, sie will einfach nicht verzichten, sie hat sich den BMW er-ar-bei-tet! 2. Mann an Handy zu Kind, auf Baumstamm balancierend: Was ist denn jetzt schon wieder? 3. Frau auf Fahrrad zu Mann auf Fahrrad: Jeder normale Mensch sagt sich doch…
Zurück stelle ich die Stöcke in die Ecke und wasche mir die in Handschuhen steckenden Hände. Die tropfenden Handschuhe hänge ich auf dem Balkon in die Sonne. Dann wasche ich mir die nackten Hände. Ich wasche sie mir zehnmal am Tag. Seifen habe ich reichlich. Sie stapeln sich in der mittleren Schublade einer Kommode im Bad, Geschenke, Mitbringsel aus Frankreich, Portugal… Habe ich mir vor Zeiten von C 19 auch so oft die Hände gewaschen? Keinesfalls. Auch zum Duschen benutze ich seit einiger Zeit Seife. Und zum Haarewaschen. Ich achte darauf, Plastik zu vermeiden – und bin entsetzt, wie viel dennoch zusammenkommt; kein Nagel, keine Schraube, kein Irgendwas ohne eine störrische Plastikumhüllung. Für den Haushalt habe ich mir ein Buch zugelegt: 5 Hausmittel ersetzen eine ganze Drogerie. Jetzt mische ich mir alles, was ich brauche, selbst zusammen. Das ist so simpel, dass selbst ich das bewältige. (Ich hoffe, dass Umwelt jetzt und in der Zeit nach C groß geschrieben wird und großgeschrieben bleibt. Sie scheint auf der einen Seite in den Hintergrund getreten zu sein, auf der anderen rückt sie aber in Form von Erfahrungen viel stärker ins Bewusstsein. Erfahrung ist immer stärker als ein Argument. Menschen in Europa machen jetzt die Erfahrung von klaren Wassern, von sauberen Kanälen, von sich erholender Natur. Das wird hängenbleiben in den Augen.) Die Maiglöckchenseife ist leider bald verbraucht. Dann kommt die Rosenseife dran, und dann habe ich die Wahl zwischen einer unansehnlich braunen Olivenseife und einer stark nach Lavendel duftenden lavendelfarbenen Lavendelseife aus Frankreich. Happy-burthday-to-you, zweimal singen. Marmelade im Schuh. Ich argwöhne, dass ich von Mal zu Mal schneller singe. Ich wasche meine Hände in Unschuld, von mir stammt diese Vire nicht.
Zum Abtrocknen benutze ich die Handtücher meiner Großmutter. Sie sind lang und schmal und haben an jedem Ende in der Mitte eine Schlaufe zum Aufhängen. Erst trocknet man sich die Hände am einen Ende, dann am anderen. Sie sind leuchtend weiß oder grauweiß oder cremefarben, sie haben kleine rote Streifen oben und unten oder eingewebte Muster und Strukturen. Ein paar von den grauweißen aus reinem alten Leinen sind ausgesprochen hart. Man muss sie alle bügeln, leider, aber ich tu das gerne; ich liebe die Handtücher meiner Großmutter. Die leuchtend weißen sind so weich, wie ich es am liebsten habe. Sie hingen bei meiner Großmutter im Bad und in der Küche am Küchenschrank, eines sorgsam gefaltet über einer seitlichen Holzstange am Küchentisch, neben dem ebenso sorgsam gefalteten Geschirrtuch.
Den dickflauschigen Tüchern kann ich rein gar nichts abgewinnen. Der ganze Schwung maisgelber Frotteetücher, den ich einmal von einer Freundin bekommen habe, ist mittlerweile so abgewetzt und ins Graue verblasst und durchscheinend, dass die Tücher meiner Vorstellung von einem idealen Abtrockentuch schon sehr nahekommen. Ich mag Lappen, schlapprige lapprige mürbe Lappen. Und meine Kinder mochten so die Bettwäsche am liebsten, weich, zerschlissen bis zur Durchsichtigkeit. Aber wehe auch nur ein Löchlein darin.
Meine Großmutter lebte außerhalb eines Dorfes alleine nach dem Tod meines Großvaters in einem großen roten Backsteinhaus, über und über mit Efeu bewachsen. Meine Großmutter empfand ich als in zwei Wesen aufgespalten; die eine Großmutter war die, die meiner Mutter zu Hilfe aus ihrem Dorf nach Berlin eilte, Mittag kochte, Knöpfe annähte, unentwegt unseren Spielzeugschrank aufräumte und mit freudloser Miene über meine Mutter wachte. Einzig beim Mensch-ärger-dich-nicht-Spiel konnte sie ein wenig auftauen. Sie war besessen davon, alles hinter sich zu bringen, alles fertig zu haben, das Aufräumen, das Essen, den Abwasch… Meine Schwestern und ich fanden, sie serviere das Mittagessen jeden Tag ein bisschen früher. Sie riss uns die Teller unterm Kinn weg, kaum hatten wir die letzte Gabel im Mund. Wir spotteten, Omi, wenn du so weitermachst, kriegen wir das Mittagessen zum Frühstück. Die andere Großmutter war die, die ich in ihrem Haus besuchte, die mir das Lesen beibrachte mit Hilfe der Dorfzeitung und den alten Nesthäkchen-Bänden meiner Mutter, die mir Brote mit köstlicher Leberwurst schmierte und sie in kleine Quadrate schnitt. Dazu gab es eingelegte Gürkchen. Für die Gläser mit Gurken und Leberwurst stieg sie in einen muffig riechenden kalten Keller ihres Hauses, das nicht mehr ihr Haus war, sondern von der dorfeigenen PGH gegen mietfreies Wohnen bis zum Lebensende beschlagnahmt. Wir schliefen in den hintereinander stehenden Ehebetten im kleinen Schlafzimmer. Meine Großmutter schloss die Fensterläden; das mochte ich nicht und bettelte; so ließ sie einen Spalt offen, während ich in den Kissen versank. Am nächsten Abend musste ich wieder betteln. Im Wohnzimmer stand ein alter Bücherschrank mit knarrender Tür, in dessen unterstem Fach die Kinderbücher standen, Robinson Crusoe, die Hasenschule, Nesthäkchen, Bechsteins Märchen. Großvaters Sessel, Samtdecken auf dem Diwan, ein ausgestopfter Kauz. Ich saß Stunden am Tisch und zeichnete und erzählte die bei meinen Schwestern so beliebten Fortsetzungsgeschichten, während Omi auf dem Küchensofa saß und stopfte und fein lächelte wie in Berlin nie. In einer nach Holz und Graphit duftenden Schublade der Kredenz lagen meine Stifte, Radiergummi, Papier. In einer anderen Schublade bewahrte meine Großmutter ihre Lebensmittelmarken, ihr Haushaltsbuch, Briefmarken und Umschläge auf. Ich erinnere mich an ihre Bleistiftstummel und dass sie die Spitze anleckte, bevor sie etwas in ihr in geblümtes Einwickelpapier gehülltes Notizheft schrieb. Für Briefe benutzte sie einen Federhalter. Auch ich schrieb meine ersten Briefe mit Federhalter und Tinte.
Manchmal saßen wir an lauen Abenden auf der Bank vor dem Haus. Die Angestellten der PGH waren mit ihren Fahrrädern nach Hause gefahren, es war still, die Vögel sangen. Und wir, meine kleine Omi und ich, saßen einfach nur da und baumelten mit den Beinen. Einmal, ich weiß nicht, ob ich mich tatsächlich erinnere, oder ist es die Fantasie einer Erinnerung, da steckten meine Füße in blassblauen Söckchen und Omis in dünnzarten weißen.
Meine Mutter sagte in überschäumendem Ärger oft: Ich bin nur froh, dass Omi nicht hier ist und das nicht erleben muss, das würde sie umbringen. Dass wir so unordentlich waren, dass es wieder Eintragungen im Schultagebuch gab, weil ich vorlaut und ungebärdig war, meine Hefte immer schludrig, und alles kam weg, Schlüssel, Strümpfe …. Und auch später, als unsere Großmutter schon Jahre tot war, sagte sie es: Ich bin nur froh, dass Omi das nicht mehr erleben muss. Und es bezog sich immer auf die Enkeltöchter, auf ihre Scheidungen, Unfälle, missglückten Beziehungen, Krebserkrankungen, was eben so vorkommt im Leben. Ein Glück, dass Omi das nicht erleben muss.
Bis heute gibt es, wenn ich an sie denke, ein Wort, das mich wieder und wieder auseinanderreißt. Einmal, in ihrer Wut wegen eines Tintenklecks auf meinem Unterhemd, das mir meine Großmutter geschenkt hatte, eine Garnitur Unterwäsche, die ich als Geschenk nie hatte würdigen können, schrie meine Mutter: Und Omi spart sich alles vom Munde ab, mit ihrer Rente von nicht mal hundert Mark. Sie isst tagelang zu Mittag nichts als Milchsuppe!
Meine Großmutter ist mit 76 Jahren gestorben, verbittert und durch die Scheidung meiner Eltern in ihrem Lebensnerv getroffen. Auf meinen Vater bezogen murmelte sie oft mit wässrigen Augen: Dieser Verbrecher. Dieser Verbrecher. An diese Omi, die mit der Milchsuppe und dem guten Schweigen auf der Hausbank denke ich. Alle paar Jahre schreibe ich ihr und erzähle ihr von den Urenkelinnen und Urenkeln und vergrabe den Brief in meinem Garten, der auf so vielen Schichten von Erde und Vergangenheit angelegt ist. Liebe Omi, dies jetzt und hier möchte ich grad auch nicht erleben.