.4. Hinterherhinken

Als ich mit Petrine von der Ostsee kam, stürzte ich mit jedem Kilometer mehr, den wir im Auto zurücklegten und der uns Berlin näher brachte, in die Gegenwart von C. Wir hatten eine Ferienwohnung gemietet. Wir waren erleichtert, dass sie auf eine uns sympathische Weise ausgestattet war, wilde Natur vor der Tür, kein mit Kunsthandwerk aus Ton und Plastik verschandelter Vorgarten. Wir kauften Fisch, wir kümmerten uns um unsere Faszien. Wir waren entzückt: ein Dorfkino! Es lief Baumleben von Wohlleben, oder so ähnlich. Furchtbar enttäuschend, sehr wenig Baum, sehr viel Baumexperte, man sah den Wald vor lauter  Wohlleben nicht. Das Buch war interessant zu lesen, aber steif, es riss mich gar nicht mit, man vertrocknet sozusagen mitten im Satz. Nach etwas mehr als der Hälfte des Films gingen wir. Im Foyer strich eine riesige helle Katze umher, Schädel, die schmalen Augen und der Gesichtsausdruck – zweifelsohne die Grinsekatze. 

Drei Tage, in denen wir C leidlich von uns weg halten konnten. Das fiel leicht im Meereswind und angesichts einer sich in die Unendlichkeit streckenden See. Der Horizont die Trennlinien,  eine vorgetäuschte Entfernung zu allem Bösen. Natürlich guckten wir die Nachrichten. Der Virus befiel soeben Italien. Petrine hatte eine Reise nach Mailand gebucht. Es war Anfang März. Noch war die Reise möglich. Schon drei Tage später undenkbar. Es ging alles so schnell.

Ich hatte monatelang hintereinander an den Alben für die Kinder gearbeitet, Kinderleben und Zeitgeschichte. Ich hatte unablässig gedruckt, geschrieben, gesucht, kopiert, geklebt, ausgeschnitten, gezeichnet, gesucht… Meine Küchenwerkstatt widerstand allen Versuchen, Arbeit und Struktur, Kochen und ein gewisses Maß an Übersichtlichkeit einzuführen. Die Kinder hatten mir zum Geburtstag eine gemeinsame Reise nach Hiddensee geschenkt, nur wir vier für drei Tage. Ich bin vor Freude fast zusammengebrochen: Ein doppeltes Glück; einmal die Reise an sich, dann, dass sie einen so tiefen Wunsch vorweggeahnt hatten. Ich wollte die Alben so weit fertig haben, dass wir sie uns dann zusammen angucken konnten. Die kleine Fahrt mit Petrine war ein Break: Werkstatt aufräumen, die ersten Bücher binden, kleinen Koffer packen und weg. Ich fragte mich, wie ich diese kiloschweren Alben wohl transportiert kriegen würde. Und ich frohlockte, ich hätte im letzten Jahr gejammert, dass ich weder an die Ostsee noch überhaupt irgendwohin gekommen wäre, und nun gleich drei Mal, mit Petrine, mit den Kindern – und im Sommer eine Woche mit der ganzen Familie und der Familie meiner Schwester. 

Zurück in Berlin und in meiner Wohnung stand ich dumm und fremd da und drehte mich im Kreis und spürte, wie Corona sich unaufhaltsam auf mich zu bewegte. Dieser Moment des Erkennens, dass der Virus sich aus etwas Fernem und Allgemeinen in etwas Nahes und Konkretes und Persönliches verwandelt hatte, war zutiefst erschreckend. Der Moment, wo eine Katastrophe sichtbar wird. Ich habe sehr körperlich darauf reagiert, mir war übel, mir war schwindlig, ich fühlte mich im freien Fall. Mit einem Mal waren die kleinen Sicherheiten und Verlässlichkeiten, mit denen ich mein Leben eingerichtet hatte, weggefallen. Und ich war ein Kind ohne Tröstung. Vielleicht hatte ich auch die Tatsache unserer dauerhaft fragilen  Existenz gerade aus den Augen verloren. So sehe ich das noch heute: dieser erste Tag, diese Stunde – eine Zäsur, ich kippte in eine Ausweglosigkeit, in ein Ausgeliefertsein. Und ich kriegte Angst, ich würde in eine Angstneurose reinschlittern und da nie wieder rauskommen. Dieser Zustand von Verwirrung und Wackligkeit hielt zwei Tage an. Dann hatte mein Hirn kapiert. Dann war mein Organismus in den Überlebensmodus eingetreten, der einen befähigt, den Dingen, wie sie sind, ins Auge zu sehen und sich zu verhalten. Ich habe alles gelesen und mir im Radio angehört und mir im Fernsehen angesehen, was es zu dieser Epidemie, die kurz darauf als Pandemie erkannt wurde, zu sagen gab. Ich filterte den Wust von Dokumentationen, Erklärungen, wissenschaftlichen Erkenntnissen, Beschwörungen, Beschwichtigungen, Verharmlosungen und Katastrophensucht in brauchbar und unbrauchbar und versuchte, mich zu orientieren. So viel Wissen über Nichtwissen gab es noch nie. (Habermas) Ich machte die Bekanntschaft von Prof. Drosten und seinem Podcast und kam doch nie nicht hinterher. Dieses Gefühl habe ich immer wieder, manchmal innerhalb eines Tages, dass ich nämlich den in ungeheurer Geschwindigkeit sich entwickelnden immer neuen Ereignissen und sich verschiebenden Situationen hinterherhinke. Meine Seele kommt nicht mit. Eben noch S-Bahn, Freundinnen, Kinder treffen, schon Isolation.

Statt Isolation habe ich Ilosation geschrieben, und das erschien mir richtig. Ja, denke ich, neue Wörter für nun in einem neuen Koordinatensystem stehende Begriffe: Isolation, Abstand… Wörter füllen sich mit neuen Bedeutungsinhalten. Die Sprache mäandert entlang einer Krise.

Nach dem anhaltenden Chaos in meiner Wohnung, das mich in die weltgrößte anzunehmende Sucherin verwandelt hatte, begann ich nun mit Durchräumen und Aussortieren. Tilly hatte mir das Buch einer japanischen Aufräumerin ans Herz gelegt, in dem es vor allem um die Reihenfolge geht (Kleidung zuerst, dann Bücher, dann alles andere) und um Glück. Diese Frau ist eine Besessene. Ich mag es mir gar nicht ausmalen, was es bedeutet, dass sie als Achtjährige schon aufs Aufräumen und Sortieren fixiert war. Das Buch zu lesen ist eine Qual, endlose Wiederholungen, so funktioniert Gehirnwäsche. Sie hat gewirkt. Ich nehme einen Pullover in die Hand und frage mich, ob er mich glücklich macht. Nein? Weg damit. Ich war mit allem schnell durch. Ich bin einfallslos und anspruchslos, schwarze Hosen, Röcke, T-Shirts. Mir war es vor allem um die Bücher zu tun. Von schweren Möbeln hatte ich mich längst verabschiedet, Biedermeiersekretär, eine Kommode, zu viel, zu mächtig, die Aussteuertruhe meiner Großmutter, die mir emotional unverzichtbar schien, ist nach ausdauernden Überredungen zu Oli und Elli gewandert.

Vergangenheiten, Vergangenheiten … Bei vielen Büchern konnte ich tatsächlich sagen, ja, sie machen mich glücklich, ja, die drücke ich an mein Herz. Bei anderen war ich ratlos. Und behielt sie. Als ich die an den Wänden gestapelten Büchern in die Bananenkisten legte, musste ich mich manchmal schon sehr wundern und tat das eine und das andere Buch zurück ins Regal. Ich verabschiedete mich von hässlichen Büchern und kleinen zerfledderten Reklambändchen. Ich verstehe nicht, warum ich nicht längst die schöne gebundene Ausgabe von Rodoredo: Auf der Placa del Diamond bestellt und die alte abgegriffene vergilbte aussortiert hatte. Das muss etwas mit der Heiligkeit von Büchern zu tun haben, ich bin damit aufgewachsen, Bücher waren immer mein Schrein, der Rahmen meines sich auf Wanderschaft befindlichen Geistes, mein Erleben, Teil meiner Erfahrung. Literatur, die nicht weniger Teil von mir ist als vieles von meiner eigenen Geschichte.

Das Wort Bibliothek ist reine Magie. Solange ich meine Bücher um mich haben, meine Freunde, Geliebten, meine Partner, meine Lehrer, meine Ernährer … kann mir nichts Schlimmes widerfahren (außer dem, was mir zustößt).

Solange ich noch mit der Bahn fuhr, habe ich jeden Tag drei, vier Bücher auf den Sitzen liegen lassen. Hineingeklebt einen Zettel: Wanderbuch. Zum Behalten, Lieben, Weitergeben…

Noch zu Beginn des Monats habe ich annonciert, einige Sammlungen für wenig Geld angeboten, war dann aber nicht begeistert, als mir einmal ein Mensch in die Wohnung vordrang und dieses und jenes Bild zu sehen verlangte. Ich hatte Mühe, ihn wieder loszuwerden. Von einem angemessenen Abstand in dem schmalen Flur konnte keine Rede sein. Viele Bücher habe ich verschenkt. Sie in stabile Taschen gepackt und in den Hausflur hinausgereicht. Dankesblumen und eine Dankespomelofrucht entgegengenommen.

Jetzt stehen 12 Bananenkisten im Keller, geschleppt von den reizenden jungen Leuten im Haus, Ende April soll der Abholdienst von Sinnewerk kommen. Ob das was wird?