.3. Einmal Glück hin

Einmal besuchte ich meine Tilly in ihrer Arbeitsstelle und stand lange an dem großen Fenster in der Essnische, während sich Tilly an der Theke zu schaffen machte. Mein Blick umfasste genau das Dreieck, wo die Almstadt, die Linien und die Liebknecht aufeinandertreffen. Zu meiner Zeit hieß die Tor, auf die die Liebknecht zuläuft, Wilhelm Pieck. Aber diese Zeit jetzt ist ja auch meine Zeit. Als ich wieder auf der Straße stehe, überfällt mich plötzlich mit voller Wucht eine dieser Gleichzeitigkeiten und ich bin die junge Frau, die mit ihren Kindern diese Straßen entlang läuft, und mit ihnen ins Babylon-Kino geht, wo Suse sich an sie klammert, wenn die kleine Ziege sich zu weit von der verzauberten Prinzessin entfernt. Und die, wenn die Kinder krank sind, zur Telefonzelle Ecke Almstadt/Liebknecht jagt. Sie trägt diese Eulen­brille. Genau so eine habe ich mir zu meinem letzten Geburtstag geschenkt. Mir gefällt die Idee von sich ständig schließenden und öffnenden Kreisen. Und die alte Eule sagt der jungen Eule: Denk mal, eines Tages wird deine jüngste Tochter hier arbeiten in einem neuen Haus und in einer neuen Zeit. Und du selbst wirst an der Bernauer über die Steine springen, die den Mauerverlauf kennzeichnen und sekundenlang Glück empfinden. Einmal hin, Glück, einmal her, Glück…

Und mir wird ganz schwindlig wegen der Intensität dieser Begegnung. Und ich möchte alles an noch kommenden Gegenwarten wie eine Zuversicht in sie hineinschütten.

Jeden dieser Tage x und y von C 19 laufe ich irgendwohin, Wald, Bach, Naturschutzgebiet hinter dem Bahnhof, See… Am hundertjährigen Kino angekommen bin ich immer fünfzehn Jahre alt, sehe Hamlet mit dem jungen Laurence Olivier. Und ich sehe an genau dieser Stelle auch Jean, groß und schön mit ihren raspelkurzen weißblonden Haaren, Skihosen, klappernden Holzlatschen und einem zwei bis drei Meter langen Schal. Ich bringe sie zum Bahnhof Friedrichstraße, sie fährt weiter nach Westberlin, ich fahre allein zurück. In der Bahn rauchen wir unentwegt Stuyve­sant. Die eierbechergroßen Aschenbecher haben ein wackliges Deckelchen, das nie zugeht. Sie sind unter dem Fenster angebracht und immer und immer voll. Jean lässt mir die angefan­gene und meist zwei oder drei unangebrochene Schachteln da. Und ich setze alles daran, mir das Rauchen anzugewöhnen, solange, bis mir nicht mehr übel und trieselig wird. In einem Jahr werde ich es geschafft haben, in einem Jahr werde ich eingemauert sein, in einem Jahr wird Jean an der Grenze ihren Pass brauchen. Und sie wird mir einen Pass organisieren. Aber während sie mir von den Socken bis zur Unterhose und Kleinkram für die Tasche alles schickt, was mich zu einem Westmädchen macht, verstreicht die Zeit und es werden Passier­scheine eingeführt und der Pass ihrer Studienfreundin ist nutzlos geworden.

Jetzt bin ich ganz dieses Mädchen. Und auch in dieses Mädchen, das da in neuen Skihosen mit Steg und nach Westen duftendem Pullover rauchend und unendlich traurig an der Stra­ßenbahnhaltestelle gegenüber dem hundertjährigen Kino steht, schlüpfe ich hinein mit mei­nem bis in die Gegenwart angefüllten Leben und meiner  Zeitgeschichte. Und möchte ihr ver­zweifelt gerne irgendetwas geben.

Giovanni d.L. ist euphorisch. Euphorisch und dankbar. In einer Zeit der Not, in der die Men­schen sowohl das Beste als auch das Schlechteste hervorkehren, ist sich ein Volk darin einig, sagt er, dass es seine Alten und Schwachen schützt. Nicht irgendwie beiläufig, sondern be­wusst mit allen Konsequenzen. Und nirgendwo werde eine Rechnung aufgemacht, die lauten könnte, ein paar zehntausend Tote wären nicht so schlimm wie der drohende weltweite Ein­bruch der Konjunktur. Stattdessen lege sich die Gesellschaft Fesseln an und zeige tätige Soli­darität.

Ja, das sehe ich, das konstatiere ich, höre ich ja auch um mich herum. Aber da hakt sich etwas in mein Gefühl. Da bilden sich ganz ohne mein Zutun Szenen auf meiner Netzhaut ab: Wenn ohne die Alten die Welt zu retten wäre, triebe man sie da auf Berge, setze sie auf Eisschollen, zerre sie aus ihren Häusern und verbanne sie in Katakomben wie einst die Leprakranken?  Ganz nach dem Prinzip: Um die Zukunft und das Glück der Mehrheit zu sichern, darf das einer Minderheit geopfert werden.

Camus: Die Pest. Durch das natürliche Spiel der Selbstsucht verschärfte die Pest in den Her­zen der Menschen das Gefühl der Ungerechtigkeit, statt durch ihre tatsächlich unparteiische Herrschaft die Gleichheit unserer Mitbürger zu verstärken.  

Ich glaube, dass die meisten eigentlich und im tiefsten Winkel ihres Wesens Freude haben an der eigenen Großzügigkeit, dass sie gerne helfen, dass sie in der Hilfe eine große Befriedi­gung erfahren. Und dass es vielleicht dieser Aspekt ist, der sie auf eine Weise mit ihren Mit­menschen verbindet, der im tätigen gelebten Leben oft untergeht, wie abgeschliffen ist, ver­dünnt, als Verbindung gar nicht mehr wahrnehmbar. Wie wunderbar ist es doch, helfen zu können! Selbst, wenn mich ein Mensch nach einer Straße fragt und ich kann ihm den Weg beschreiben, fühle ich mich schon unverhältnismäßig seltsam großartig.

Also setze ich auf Kant und seine Pflichtethik: Nicht nur die Folgen einer Handlung müssen gut sein, sondern die Handlung selbst muss es sein. Nur so kann Menschenwürde gewahrt werden.

Der Sohn eines Freundes, den ich sehr gern mag, wehrte mit allen Zeichen des Befremdens die Zumutung ab, er könne sich doch vielleicht einer dieser Plattformen von jungen Leuten an­schließen, die Einkäufe und Hilfe für Alte organisieren. Ich wäre möglicherweise nicht so enttäuscht gewesen, hätte er nicht als Erstes gesagt, kommt drauf an, was es bringt. Und erst als ich sagte, Geld jedenfalls keins, lachte er auf.

Auf der Straße bin ich froh, wenn ich gerade noch ausweichen kann, aber da pflügt mich schon der nächste mit einem zerstreuten Tut-mir-leid um. In der vollen Bahn wird unange­strengt durch mich hindurchgesehen, aber Dank all denen, die mir reizenderweise ihren Platz angeboten haben. Oftmals erscheinen mir die jungen Leute wie auf ihrem eigenen Planeten, ein neuer den sechs einsamen Planeten des kleinen Prinzen hinzuzufügender: ein Planet der Abwesenheit.  Kopfhörer, abwesende Miene, konzentriert nach irgendwo innen, liebe Seelen, interessiert, möglicherweise gebildet, jedenfalls gut informiert… Aber: Planet. Einmal erfuhr ich zwischen Ostkreuz und Hirschgarten nahezu alles, was es im Hinblick auf einen gewissen sensiblen Janek zu sagen und zu bedenken gab. Und fragte mich beiläufig, wie es dem hyper­sensiblen Janek wohl gefiele, wüsste er, dass ein ganzes S-Bahnabteil mit seinen, Janeks, ur­eigensten Eigentümlichkeiten gefüttert wurde. Und die Planetenbewohnerin plauderte und plapperte so arglos vor sich hin, durchaus der Menge von Menschen um sie herum gewahr, sie guckte hierhin, dahin, hatte mal mich im Blick, mal andere, aber das bedeutete ihr nichts, für sie zählten wir nicht. Wir waren ganz einfach nicht existent für ihr Planetenwesen. Phä­nomenal.