.2. Ich hab Flügel nicht

Es ist vollkommen still. Wo bleiben die Kinder, die weder in der Schule noch in der Kita noch in dem benachbarten Spielehaus sind? Auf dem großen Spielplatz, der zu dem Neubau nebenan gehört,  waren außer den zwei Kleinen aus dem Erdgeschoss noch zwei oder drei andere, größere Kinder zu sehen. Ich habe von meinem Schreibtisch aus das Holzhäuschen mit der Schaukel im Blick. Dann war mit einemmal die Hausverwalterin zu sehen und die größeren Kinder ver­schwanden. Und ich frage mich, ob die Spießermumien in ihren teuren Woh­nungen wieder einmal Krach geschlagen haben. Das taten sie im letzten Sommer mehrmals, grantige alte Schachteln, die bei jedem Pieps von ihren Balkonen runterbrüllten. Jetzt wittern sie die Gunst der Stunde: Spielplätze geschlossen. Bei den verbleibenden zwei Kleinen können sie jedoch nichts mehr ausrichten, weil die selbst zu einer der teuren Wohnungen gehören. Da müssen sie dann wohl mit den Zähnen knirschen. Aber ich kann auch nicht aus meiner Haut. Die zwei Kleinen haben jetzt den Spielplatz exklusiv für sich. Und die drei Kinder von der Cellolehrerin im Vorderhaus haben rein gar nichts. Und wäre es denn da nicht eine Idee, sich untereinander zu besprechen und nach einer Lösung zu su­chen? Nee, offenbar nicht.

Es ist vollkommen still. Die Frühlingssonne scheint. In den Nächten Minustem­peraturen. Frost und Eiskristalle … ein Bild von Einschließung, von Absterbung, Eiszeit.  Und ich fantasiere mir ein Szenarium zusammen, in dem die Viren, so­bald sie auf den eiskalten Boden gefallen sind, jämmerlich erfrieren. Und in den Arztpraxen müssen alle die Menschen, die man Verdachtsfälle nennt, in den Hof und auf die Straße in die Hocke gehen und rumhusten. Und kleine Kältekam­mern würden eingerichtet oder aktiviert und jeder Mensch hustet in sein eigenes Gefrierfach. Und schon ist wieder alles gut.

Stille macht mich glücklich. Ich gehöre zu den Menschen, die über Kopfhörer, Ohrstöpseln und eine gesteigerte Geräuschempfindlichkeit verfügen. In der S-Bahn höre ich Podcasts oder Bach; auf der Straße, während meiner  Spazier­gänge, beim Fahrradfahren nicht. Manchmal ist mir ganz schlecht vor Erschöp­fung, wenn ich heimkomme von all den Geräuschen um mich herum, und ich fühle mich reizbar und explosionsfähig. Das kriegt aber niemand ab; ich lebe allein.

Am 9. März, als meine jüngste Tochter Tilly Geburtstag hatte, bin ich zum letz­ten Mal für vermutlich lange Zeit mit der S-Bahn gefahren. Das wusste ich aber nicht an diesem Tag, und ich hatte erst zwei oder drei Tage zuvor eine Monats­karte gekauft. Wie immer wartete ich am Ostbahnhof auf eine Bahn, die hier einsetzt, mithin leer ist.

Einmal, als ich auch in der dunklen, deprimierenden Ostbahnhofshalle auf eine Bahn wartete, sah ich einen Mann Leute ansprechen und weitergehen und kramte nach Kleingeld. Nach einem Artikel, ich glaube, er war in der Beilage  der Zeit oder der Süddeutschen, und lautete: Man kann doch nicht jedem etwas geben? Doch, man kann!, habe ich mein Verhalten, dieses ganze unglückselige Abwägen, der ja, die nein, und warum-darum? abgelegt. Der Mann kommt auf mich zu und sagt: Kann ich Ihnen für eine kleine Spende ein Gedicht aufsagen? Nur zu, sage ich. Es ist ein längeres Gedicht? sagt der Mann in einem zugleich fragenden und warnenden Ton. Ich nicke. Ich erwarte irgendein Selbstgebastel­tes, wenn ich Glück habe, nichts Humoristisches. Er sagt fragend-warnend: Es ist von Johannes Bobrowski? Ich nicke. Großartig, sage ich.

Johannes Bobrowski: Heimweg.  Wind. Er hat mich geführt. / Vor der Schwelle lag ich. / Er hat mich bedeckt. Wohin / sollt ich ihm folgen? Ich hab /Flügel nicht. Meine Mütze / abends / warf ich den Vögeln zu.

Die letzten Zeilen des Gedichts wiederholt er: Das Ruder / zerbrochen, so werd ich nicht sinken, ich gehe über den Strom.

Meine Bahn ist weg. Ich danke ihm und geb ihm das Geld. Während ich den Mund öffne, um ihn nach seinem Bobrowski zu fragen, dreht er sich schon weg und geht.  Später erzählte ich Helga von diesem seltsam einsamem Glücksmoment. Und sie weint ein bisschen und sagt: Dinosaurier. Wir sterben aus.

Ich nehme einen der Eckplätze im Fahrradabteil, da habe ich an der einen Seite eine Plastikwand und zwischen meiner und der gegenüberliegenden Reihe ist ein schöner Abstand. An diesem Tag war mein Gegenüber eine Frau mit Fahr­rad, die entschlossen das Fenster aufriss, und obwohl es kalt zog, wagte ich nicht, mich gegen diese Frischluft-Attacke aufzulehnen. Und grundsätzlich ist ja in keinem Fall an frischer Luft etwas auszusetzen. Ich sah also die Viren, die sich genügsam an Mäntel, Sitze, Fensterrahmen klammerten oder sich bereits auf den Boden gesenkt hatten, von der Virenfrischluftschleuder aufgestört, los­gewirbelt und umhergetrieben und mit der ganzen Kraft der Zugluft direkt in meine Nasenöffnungen gepresst und auf meine Lippen geworfen.

Am Abend des letzten Tages, an dem ich mit der Bahn fahre, denke ich an meine Virenfantasien, sie sind so aberwitzig wie mir das Virus selbst erscheint. Die Abbildungen, die das TV uns nun unablässig entgegenwirft, dieser Planet mit seinen umgestülpten Kratern in einem bedrohlichen Rotton, sind gleicher­maßen Bilderbuch und Horror. Und mir fällt das Barlachlied ein: Vom Himmel auf die Erden falln sich die Engel tot…