.1. Helli Dävindsen

Wer A sagt, muss auch B sagen, aber nun sind wir schon bei C.

Ich frage mich, was ich wohl wieder mal Lebenswichtiges übersprungen habe.

Brigitte Bardot ist jetzt 86 Jahre alt, ihre langen dichten Haare schlingt und steckt sie in aufwendiger Prozedur irgendwie auf ihrem Schädel zurecht, ihre schiefen Zähne sehen aus, als wären es die eigenen. Sie benötigt Krücken. Sie lebt mit vielen Tieren in der Natur. Ihre Eltern mochten ihre jüngere Schwester lieber. Es ist irritierend, sich vorzustellen, wie ein Mensch das, was er nach dem Bekunden anderer vorzuweisen hat, Schönheit, Verführung, Glanz, sozusagen im Umkehrschluss zwar benutzt im Leben und doch sich selbst nicht darin fin­det. So ist es glaubhaft, wenn sie sagt, sie fühle sich den Tieren verwandt.

Worauf man so kommen mag zwischen vier und fünf Uhr früh. Ich dachte dann an die schönen Alten, die wunderbaren Alten, an meine geliebte Louise Bourgeois, an Kiki Smith, an Natascha, an Margerite Dumas, an Hannah Arendt, an Helga Novak, an Friederike Mayröc­ker…  Ich dachte daran, dass ich einen Text über Margerite und Helga schreiben wollte, über ihre Söhne. Über ihre Abstoßungen. Ich erinnerte mich an Helgas Verliebtheit in einen Jungen, an unsere langen Gespräche über Gorgo und Me­dusa, über die Hässlichkeit des Alters, über den Zauber und den Schmerz, sich in eine Liebessehnsucht hineinzusteigern.

Und wie wir gelacht haben, einmal, als Helga auf den Fotos, die ich von ihr ge­macht habe, den lichten Fleck auf ihrem Kopf entdeckt hatte und zunächst wie erstarrt war. Dann aber. Und über ihre Zähne, an die ich mich oft erinnert fühle, wenn ich abends meine Spange in ein Wasserglas werfe. Oben vorne fehlten ihr drei Zähne. Sie hat sich überwunden und aufgemacht zum Zahnarzt. Einen Zahn hat er ihr zusätzlich gezogen. Und die Brücke, die er ihr verpasst hat, hat sie eingesetzt, ist mit der Zunge hundertmal hin und her gefahren, vermutlich mit gerunzelter Stirn, zusammengekniffenen Augen. Dann wird sie sich die Brücke rausgerissen haben. Ich sage, meine hat auch nicht gleich perfekt gepasst. Sie hört nicht zu. Zwei Jahre, sagt sie, übe sie nun Zurückhaltung. Wie soll das wohl ausgesehen haben?, frage ich. Sie sagt: Nichts Öffentliches, keine Lesung, ich bin nirgendwo mehr hingegangen, und immer die Hand vor dem Mund. Immer allein. Ich sage, das sei nichts Neues. Dinge, die sie ohnehin verabscheue und sich vorsorglich in die Bewusstlosigkeit trinkt vorweg. Und überdies jetzt in ih­ren Wäldern hockt, Rehe, Schwäne, Eichelhäher. Du sagst das, sage ich zu ihr, weil du jetzt einen Grund hast, eine Ausrede, ein Irgendwas. Wir lachen, wir sagen nahezu gleichzeitig, weil ich es schon so oft von Helga gehört habe, es ist immer sehr wichtig, einen Schuldigen zu finden.

Ich war letztens dreimal beim Zahnarzt; wenn mir links der Wackelzahn raus­fällt, benötige ich eine neue Brücke. Die ist ausgemessen und angemessen, zweimal hatte ich den Mund voll mit Zement. Und beim Rauslösen das Gefühl, als würden etliche Hirnstränge, Kiefernmuskeln, Augennerven folgen. Die letzte Anprobe fehlt. Aber ich fahre seit zwei Wochen nicht mehr S-Bahn. Ich schone jetzt meinen Wackelzahn. Verabschiedet er sich, kann ich Helga grüßen in ih­rem Grab in Erkner. Guck mal, wird sie sagen, geht auch so.

Heute ist Dienstag. Und ich widme diesen Tag meiner alten Freundin Helga, deretwegen ich auf den Satz „Alle diese patenten fantasielosen Krankenschwe­stern heißen Helga“ verzichtet habe. Und ich bin froh deswegen. Heutzutage müsste ich mich grämen, wenn ich auch nur einer, einer einzigen Unrecht tat, indem ich sie der Lieblosigkeit, der Fantasielosigkeit oder überhaupt auch nur andeutungsweise irgendeiner Unheiligkeit bezichtigte. Denn jetzt sind sie alle Heldinnen und wir im Haus gehen auf die Balkone und rufen ihnen zu und klat­schen in die Hände. Und endlich scheinen diejenigen, die nie genug bezahlt und geachtet worden sind, diejenigen, die für das Versorgen, das Kümmern, all das, was man im Gegensatz zur Produktion Reproduktion heißt, zuständig sind, gewürdigt zu werden. Ich fühlte mich kürzlich aber doch an eine dieser Helgas erinnert, als meine Freundin Gundel nämlich mir von der Person erzählte, die ihrer Mutter, jetzt über 90, mächtig Vorhaltungen machte und sie anherrschte, sie habe sich gefälligst früh nicht selbst zu waschen. (Wo kommen wir denn da hin, oder so ähnlich.) Und augenblicks fällt mir die andere H. ein, die im Krankenhaus Salzwedel meine alte Mutter, damals auch über 90, beherrschte. Mit die­sem Helgatonfall, der einen sofort in sich zusammenkriechen lässt.

Jetzt weiß ich wieder, wie ich auf BB gekommen bin, ausgerechnet auf eine Frau, die in meiner Bewunderungsliste gar nicht vorkommt, eigentlich auch in keiner anderen meiner Listen. Gestern schickte mir Tilly eins der mir jetzt le­bensnotwendigen Videos, Emil und sein Fahrrad. Emil ist drei. Als ich schon groß war, sagte er, hatte ich eine Helli Dävindsen, und machte sich an seinem Fahrrad zu schaffen, akkurat so, wie er es bei dem Mann gesehen hatte, dem das Motorrad gehört, das meist unter einer riesigen Abdeckhaube verschwindet. An diesem Tag, Tag x oder y von C, tauchte dieser legendäre Motorradbesitzer auf  (Home Office vermutlich), entfernte die Haube, entblößte die gewaltige glitzernde Maschine, und bevor er den Helm aufsetzte und seine Handschuhe anzog, tippte er etwas in sein Handy. Dann schob er – schon im Sitzen – rück­wärts die Maschine aus der Parklücke, startete, bog den Oberkörper vor, brauste davon. Wuäään, Wuäään! Emil – alles genau so: mit dem Finger in die Hand­fläche tippen, Helm auf, Handschuhe an, langsam rückwärts aus der Parklücke. Einmal guckt er hoch, dieses ernsthafte süße Gesicht. Ich möchte weinen, ich möchte an Gott glauben und beten. Wuäään, wuäään!

Und plötzlich, heute früh zwischen vier und fünf, hatte ich das Chanson im Ohr: Je n´ai besoin de personne en Harley Davidson. DavidSSonn!

Ich mochte Serge Gainsbourg: Ich drücke den Startknopf. Sieh, ich verlasse die Erde, vielleicht sause ich ins Paradies, aber gleichzeitig in die Hölle. Was küm­mert es mich zu sterben, wenn die Haare im Wind flattern.

Mein Sehnsuchtsland in den 60ern und 70ern war Frankreich. Es gab, glaube ich, zwischen der Kom­munistischen Partei Frankreichs und der DDR eine Art Kulturabkommen. Wir kriegten reichlich französische Filme zu sehen, viel Klamauk, Belmondo, Jean Marais, … Aber auch die Regenschirme von Cherbourg, Lieben Sie Brahms, Truffaut, Chabrol… Viele meiner Freundinnen lernten französisch. Wir standen zitternd vor Kälte vor dem Programmkino Camera in der Oranienburger, um Jules und Jim zu sehen, Wolfsjunge, Sie küssten und sie schlugen ihn

Lebt sie noch? Fragte ich mich also beiläufig morgens zwischen 4 und 5.

Es ist so einfach, alles, alles kann man auf irgendetwas zurückführen, eine Me­lodie, einen Geruch, ein Bild, das anscheinend absichtslos aus dem Nebel auftaucht. Es ist aber das Gefühl, das plötzlich erscheint und sich in ein dazu passendes Bild verwandelt, ein Synonym für eine der vielen Erinnerungen, die nie nur eine Erinnerung ist, sondern ein ganzes Netz von Ereignissen und Gefühlen umfasst. Es ist die Gleichzeitigkeit alles Ungleichzeitigen. Oder wie FM sagt: Es sind nicht die Szenen, die ich erinnere, es sind vielmehr die diese Szenen begleitenden Sensationen.