Aufbruch und andere Brüche

Die Kommune 1 Ost – eine Collage

Als Schreibende von Berufswegen frage ich mich nicht unbedingt bei jedem Ansinnen einer Medien- oder sonstigen Instanz, ob ich zum genannten Thema auch wirklich etwas sagen möchte; mitunter sind gerade die Themen auf die ich nicht verfalle, Denk- und Reflektionsanstöße und führen mich in abgelegene Zonen, die mir andernfalls vielleicht verschlossen geblieben wären. Mithin, sie sind willkommen, weil sie mich aus meinem eigenen Sumpf heraus katapultieren können, könnten. Und hier fängt die Einschränkung an. Denn der Unterschied zwischen etwas sagen wollen oder sagen müssen und herauszufinden,  was eventuell zu sagen wäre, kann am Ende einer sein zwischen Literatur und Geschwätzigkeit oder der zwischen Wahrhaftigkeit und Beliebigkeit, oder sie kann mich in ein Dilemma stürzen.

Der Titel des Kongresses „Wie weit flog die Tomate?  68erinnen-Gala der Reflektion“  erschien mir im bezeichneten Sinne durchaus nicht fragwürdig. Und der Vorschlag, über die Kommune 1 Ost, die ich initiiert hatte, zu schreiben, traf auf ein länger schwärendes Nachdenken, lag mir selbst auf der Hand, im Herzen, auf der Seele. Schließlich ist das ein Teil meiner eigenen Geschichte, und zwar ein Teil, der im Besonderen eine Art des ständigen Aufbrechens, eine bestimmte Gangart, eine künftige Affinität zu biografischen Brüchen in Bewegung setzte. Und Wunden hinterlassen hat.

Schon während ich an den Notizen saß, während ich ältere Texte las, Tee trank, Tagebuchaufzeichnungen studierte, während ich las, was von den anderen ehemaligen Kommunarden in Artikeln oder Sendungen und in den Stasi-Protokollen geäußert worden war, während ich meine Vergangenheit aus Aktendeckeln und der Erinnerung zerrte, überfielen mich alte Gespenster und Schatten, zersplitterte eben diese meine eigene Geschichte in tausend Teile. Da liegt sie dann, die eigene Geschichte, die sich im Laufe der Jahre anfüllt, zunächst Vergangenes überlagert mit neuem Erleben und Erkennen, sich dann entleert und wieder neu zusammensetzt. Und du suchst verzweifelt nach dem Phoenix in der Asche.

Ich fragte mich jetzt,  und zwar ziemlich beklommen, was ich denn wohl gedacht haben könnte, was mir wohl vor geschwebt hatte zu erzählen. Ich fragte mich, und wiederum beklommen, wem ich denn etwas erzählen wollte. Das muss bedacht sein, arbeitet man nicht gerade im eigenen Auftrag und lässt es dahingestellt, wen es am Ende interessiert. Ich saß in der Asche und malte Figuren und fand jede Konstruktion, die ich mir aus den Fingern saugte, untauglich. Ich wünschte mir Zeit, viel Zeit, die ich nicht hatte. Ich träumte davon, an der Schreibmaschine sitzend Satz für Satz wohl durchdacht (so ein leises schwebendes weißes Denken, das sich von selbst ergibt) und traumwandlerisch wie eine Pianistin auf die Tasten zu klimpern.

Und für heute wünschte ich mir einen Kreis von Freundinnen und Freunden herbei, die wissen, wovon ich rede.

Setzen wir einmal voraus – und ich tat es – dass unter den 68erinnen und 68ern ausnahmslos diejenigen verstanden werden,  die im weiten Westen Fahnen schwangen und sich die Köpfe heiß diskutierten, mit Tomaten warfen usw. – und augenblicklich haben wir alle die entsprechenden Bilder vor Augen. Die 68erinnen und 68er aus dem weiten Osten hingegen sind weitgehend aus dem Bewusstsein ausgespart und rufen, wenn wir sie herbeizitieren, keinerlei bewegte Bilder vor das Auge, sondern Fragezeichen. Annette Simon brachte es in ihrem schönen Aufsatz „Vor den Vätern sterben die Söhne“ auf den Punkt: „Anders als im Westen sind die Achtundsechziger in der DDR als Generation nicht identifiziert worden.“

Ja, gab’s die überhaupt, und wenn, in welcher Weise? Und was teilen sie mit uns? Welche Erfahrungen? Welche Aufbrüche? Welche Brüche? Und worin unterscheiden wir uns voneinander? Soll ich das beantworten? Soll ich weiße Flecken füllen? Soll ich Proportionen zurecht rücken? Am Ende für den Osten sprechen? Und hoppla, ehe ich´s mich versah, war ich mittendrin in einem dieser fruchtlosen Selbstpalaver, das mich auf der Stelle zurückversetzte in die Stimmungslage der späten 70er und der 80er im Westen, wenn es darum ging zu erklären, richtigzustellen, in Erinnerung zu rufen: Hallo, wir sind auch noch da!

Und schon geht’s vom Ich zum Wir und zu dem einschüchternden Wort relevant. Annette Simon wagt in ihrem Aufsatz den Vergleich zwischen den West und den Ost-68ern. Ein Wagnis deshalb, weil nur verglichen werden kann, was sich einigermaßen ähnelt. Und weil es erst dann, wenn Ähnlichkeiten und Unterschiede benannt sind, wirklich interessant wird. Und schließlich, weil nur wirklich fruchtbar wäre, wenn es den direkten Austausch gäbe, das Gespräch, die wechselseitige Neugier.

Gedachte Adressaten sind für Briefe unentbehrlich, für meinen Aufsatz taugen sie zu nichts. Alte Verletzungen heimzuzahlen, stellt immer eine Verführung dar, der ich mir bewusst bin und der ich nicht erliegen will. Eine sozusagen furchtlose Sachlichkeit walten zu lassen, liegt mir nicht und ist im übrigen mit klopfendem Herzen unmöglich. Das Dilemma ist nicht aufzulösen; noch dieser Text, der es beklagt, wird es gleichwohl transportieren.

Ich spreche für mich.

Wir waren Anfang zwanzig. Während ich meinen dicken Bauch vor mir her schob, vergnügte sich der Mann mit der Nachbarin, die gerade ihren Fernsehapparat gegen ein Che-Guevara-Plakat getauscht hatte. Im Sommer 68 kann meine Tochter Josefine zur Welt. Mein Sohn Oli wurde im Herbst zwei Jahre alt. Das Baby stand im Kinderwagen draußen im Garten, eine Blume auf der Decke, die von ihrem leiblichen Vater stammte, der nicht derselbe Mann war, mit dem ich verheiratet war. Mir gefiel die Ehe als Idee, aber ich sah darin keinen besonderen Sinn. Ich sah den Zweck, die nahezu einzige Möglichkeit, zu einer eigenen Wohnung zu kommen, ich sah die Abgrenzung zur Welt der Familie, der fertigen Erwachsenen. Ich sah die Ehegemeinschaft als unbestritten zweifelhaften und ungenügenden, aber dennoch Schutzraum in einer bedrohlich miefigen Welt voller Schrankwände, ausgeleierter Trainingsanzüge und Menschen mit der geistigen Beweglichkeit von Fröhlich sein und singen.

Wir lebten zu viert in eineinhalb Zimmer zur Untermiete. Um die Kinder das Nachts nicht zu stören, pinken wir mitunter kichernd aus dem Fenster. Wir stritten uns in unserem Kämmerlein, wir hörten Lieder von Biermann und John Baez und alte Harfenmusik, wir lasen uns Bobrowski vor und Hölderlin. Ich langweilige mich oft furchtbar mit den kleinen Kindern den Alltag über, diese ewigen Spaziergänge Tag für Tag und die trostlosen Spielplätze. Und die Wehrlosigkeit und Abhängigkeit und Offenheit der Kinder zerriss mir das Herz. Wir wussten nicht, was wir von Treue, Verrat, Familie zu halten hatten, wir schmeckten gerade erst die eigenen Erfahrungen und Erkenntnisse und probierten aus. Und waren uns einig darin, dass unsere Eltern uns herzlich wenig fürs Leben übermittelt hatten, das wir hätten brauchbar finden können und sinnvoll.

Wir debattierten mit den Freundinnen und Freunden über die Vision eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Wir lasen Klemperers LTI und verglichen sie mit der Sprache des realen Sozialismus. Bücher über antiautoritäre Erziehung, Literatur, Kunst, Politik – das waren die Türen, die wir uns aufstießen. Türen, die uns mit der übrigen Welt verbinden sollten. Dafür, für diesen Rest der Welt, war uns das Bewusstsein und das Verständnis näher als den später innnerhalb der Mauern Geborenen. Wir hatten noch eine Erinnerung: vor der Mauer, nach der Mauer. Und unser Aufbegehren in der Enge unserer Welt war auch der Versuch, uns einzubeziehen in das Aufbegehren außerhalb als etwas uns allen Gemeinsamem. Wir klebten an den Bildern von der Welt, die uns aus dem Fernseher einer anderen Nachbarin entgegen flimmerten: Studentenunruhen in Paris, Berlin, der Krieg in Vietnam, ein Interview mit Dutschke.

Die Zeit war voller dramatischer Momente, verzweifelter Suche und grandioser Empörung. Wir waren uns einig, nichts und niemals etwas hinzunehmen, nur weil es uns vorgelebt wurde, nur weil es als das Normale galt. Und wir rochen es. Wir spürten es. Wir hörten es. Da liegt ein ständiges Raunen von Mahnungen in der Luft: Betreten verboten. Überschreiten verboten. Hinauslehnen verboten. Wenn das nun alle täten. Und wir schrien: Ja, sollen es doch endlich alle tun!

Die Ehe währte, als eine zeitweilige Gemeinschaft verstanden, vielleicht ein paar Wochen. Dann hatte ich sie satt, dann war sie zu eng, dann brach ich aus, dann brach ich ein, dann ging sie nahtlos über in die Kommune 1 Ost, die einzige mir denkbare Alternative zum Alleinleben mit den Kindern. Ohne zu wissen natürlich, dass der Enge einer Ehe zu entrinnen eine andere Enge, die einer Wohngemeinschaft beispielsweise, nicht ausschließt.

Dem aber bei der August 68 vorausgegangen. Ein geschichtlicher und biografischer Fixpunkt, das böse Erwachen, eine Art Initiation, das Ende von Kindheit und Jugend – allgemein das Ende der politischen Unschuld. Spätestens jetzt verwandelte sich die feindselige Wand der Schrankwände in eine feindselige Welt von Gittern.

Annette Simon beschreibt das so: „Die politischen Orientierungspunkte für uns im Osten waren vor allem die Versuche der Demokratisierung des Sozialismus in der CSSR. Das Trauma der 68er der DDR war die Okkupation dieses Landes im August. Ende Oktober wurden im Neuen Deutschland die Urteile veröffentlicht, die über eine Gruppe von jüngeren Leuten verhängt worden waren, weil sie durch Flugblätter und Protestparolen an Hauswänden gegen den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in die CSSR protestiert hatten. … Urteile von zwischen mehreren Monaten und mehreren Jahren Haft. Es waren exemplarische Urteile. Zum Teil schickte die herrschende Klasse ihre eigenen Kinder ins Gefängnis. Der Vater von Thomas Brasch, als jüdischer Emigrant aus London in die DDR zurückgekehrt, war stellvertretender Kulturminister. Der Vater von Erika Berthold war Direktor des Instituts für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, also des Ideologieinstituts der DDR. Hier wurde Zukunft für die eigenen Kinder verschlossen. Die Verurteilten mussten ihre Strafen nicht absitzen. Sie wurden nach ein paar Tagen oder Monaten zur Bewährung ausgesetzt. Dies wurde dann aber nicht im ND veröffentlicht.“

Über eine dieser komplizierten Transaktionen, die in der DDR üblich waren und Wohnungstausch zwischen mehreren Beteiligten hieß, kamen wir, ich spreche von mir und Mann und Kindern – an eine für unsere Verhältnisse traumhafte Wohnung von drei Zimmern mit Bad, großer Wohnküche, einem Kämmerchen und einem langen Flur, in dem die Kinder rennen und Rollschuh- und Rollerfahren übten. Zu uns zogen Erika Berthold mit dickem Bauch und Frank Havemann. Wir nannten das Ganze Kommune 1 Ost und freuten uns diebisch. Selbstverständlich und folgerichtig hatten wir sofort die beflissene Staatssicherheit vor der Tür, an unserem Küchentisch und auf den Sofas. Mal traten sie als naive Wissbegierige auf, mal als Sittenwächter (schlafen die am Ende alle in einem Raum?) Mal als besorgte Tanten von irgend einer kommunalen Einrichtung (werden die Kinder auch nicht vernachlässigt?) Mal traten sie auf als Polizisten, die uns von der Straße weg ins nächste Revier zu dadaistischen Verhören schleppten, mal unverhüllt als das, was sie waren. Wir lachten hämisch. Zwar forderten wir kein Jahrhundert in die Schranken, aber doch die Bürger vor die Schrankwände. Wir waren großäugig und großmäulig und hatten nie ganz den Märchenglauben verloren, dass das Gute am Ende natürlicherweise siegt oder unser eigenen Beharrlichkeit wegen. Wir hatten keinen Begriff davon, dass die Bösen nicht nur den Hintergrund abgeben für eigenes gutes Tun, sondern außerdem auch unser Spiegel waren. Wir waren sehr moralisch, sehr fordernd – aber immer auch in aller Verrücktheit mit diesem Hauch von Vernünftigkeit und Ernst und Selbstgerechtigkeit, ähnlich der heutiger Altoppositioneller, die meinen, sich für immer eine Wolke im Polithimmel verdient zu haben. Kultur und Politik waren keine gegensätzlichen Pole. Das war dieselbe Luft, derselbe Geist oder Ungeist und hatte dieselbe Bedeutung: uns nämlich aus den eigenen Grenzen unseres Lebens immer wieder hinaus zu schleudern.

In einer Sendung des Deutschlandfunks: Hippies, Lauben, Sommergäste – eine Kommune in Ost Berlin von Petzold/Kaiser klingt das so: „Das Unerhörte geschah vor 29 Jahren und ziemlich unspektakulär unter dem Dach eines brüchigen Mietshauses in der Ostberliner S.-Strasse, in einer heruntergekommenen Altbauwohnung, drei Zimmer, Ofenheizung, Außenklo, saß im Frühling 69 in vertrauter Runde eine kleine Gruppe Ostberliner Jungintellektueller bei Kerzenlicht und bulgarischen Rotwein. Mit langen Haaren und echten Bluejeans, die in der DDR schwer zu bekommen und deshalb kein Kleidungsstück, sondern eher eine Art leibhaftiger Weltanschauung waren. Auf dem Plattenteller drehten sich abwechselnd ihre Lieblingsscheiben, Brainbox und Wolf Biermanns kratzende Dissidentengesänge. Eine Szenerie, fern von staatsbürgerlicher Korrektheit. Die jungen Leute blätterten in abgewetzten Wagenbach-Ausgaben oder lasen in eingeschmuggelten Undergroundmagazinen über die wild blühenden Kommune-Experimente auf der anderen Seite. Zeugnisse eines rebellischen Lebensgefühls, das in dieser Zeit nicht nur Gert und Franziska Großer, Frank Habvemann, Erika Berthold und Klaus Labsch, sondern eine ganze Generation miteinander verband. Was diesen Abend so folgenreich machte, war sein Ergebnis: die Freunde gründeten die erste Kommune auf dem Boden der DDR.

Ich höre jetzt mal auf mit der Folklore. Was die Verfasser sich aus den Fingern gesaugt oder von Interviews übernommen haben, muss dahingestellt bleiben, für diesen Ostkitsch zeichnen sie jedenfalls allein verantwortlich.

Hier der Auszug aus einer Schrift ganz anderer Verfasser: „Verwaltung für Staatssicherheit, Berlin, Abteilung XX/2. Auskunftsbericht: Franziska Großer, Vorstrafen keine. Franziska Großer wurde 68 im Rahmen der operativen Nachkontrolle des feindlich in Erscheinung getretenen Personenkreises des operativen Vorgangs Diskussionsclub bekannt. Sie und ihr Ehemann Gert Großer hatten ihre Wohnung den gerichtlich wegen staatsfeindlicher Hetze verurteilten Personen Havemann und Berthold zur Verfügung gestellt. In dieser als Kommune 1 Ost bezeichneten Großfamilie wurde ein Programm zur politischen Selbstbetätigung und kollektiver politischer Arbeit festgelegt. Darin war das Studium der Arbeiten Robert Havemanns, der Schriften Marcuses, Che Guevaras, der Werke der Klassiker mit revisionistischer Zielstellung vorgesehen. Häufig kann man durch gegenseitige Besuche mit Robert Havemann und Wolf Biermann zu politischen Gesprächen und Partys zusammen. Nach einem festen Rhythmus veranstaltet die Großfamilie Zirkelabende und Polit-Informationen, mit denen sie ihren politischen Einfluss unter Jugendlichen der Hauptstadt ständig zu erweitern trachteten. Durch operative Differenzierungsmaßnahmen und zum Teil durch demonstratives Vorgehen gegen diese Personen wurden mehrere Provokationsversuche in der Öffentlichkeit bereits im Keime erstickt.“

Eins meiner Lieblingsworte ist Aufbruch, in dem das herausfordernde Auf- auf! steckt und sich auf höchst verruchte Weise mit dem Bruch verbindet. Aufbruch ist meine Lieblingsbewegung. Mich festzusetzen hasse ich. Und lebe doch mit beidem. Jedes Zeitalter hat sie, jedes Jahrzehnt, jede Biografie: ihre Hauptworte. Eines der Hauptworte der 68er Zeit ist Aufbruch. Aufbruch beschreibt keinen Prozess, nennt keinen Weg und kein Ziel, sondern den simplen Vorgang einer Bewegung. Erst dieser Bewegung folgen Weg und Ziele. Einen Rucksack schultern und auf die Straße gehen, von der Illusion in die Wirklichkeit; eine Ruhe beenden, um etwas Bewegendes und Bewegtes zu beginnen. Wenn wir aufbrechen, dann in einer Art Gewaltakt. Es bleibt nichts in der gleichen Weise zurück, wie es vordem war. Ein wirklicher Aufbruch geht vonstatten, indem verkrusteter Boden um uns hier aufreißt. Im Aufbruch brechen wir mit alten Gewohnheiten, mit Konventionen, mit schön Vertrautem – Aufbruch ist Abschied.

Im Osten aufzubrechen, bedeutete etwas anderes als im Westen aufzubrechen. Die Aufbrüche der jungen Generation im Osten hatten immer etwas mit dem Trauma der Eingesperrten zu tun. Grenzüberschreitung meinte immer die metaphorischen Grenzen und die geographischen Grenzen. Ein verinnerlichtes und verdrängtes Bewusstsein von der Welt und ihrem Außensein. Die Verdrängung geschah im Abschwächen, als käme es doch nicht so drauf an, als zählte immer und sowieso nur gerade der Ort, auf dem die Füße stehen. Tun wir, was wir können und tun müssen: hier! Die große Welt, was ist das schon? Na ja, Afrika, Amerika, der Ku´damm; andere Länder, andere Sitten. Vielleicht ist Kuba ein Ort zum Leben? Aber da kommen wir ja auch nicht hin. Oder: in Wahrheit, Würde, Anstand lebt der Mensch, egal wo er ist – oder er lebt eben nicht. Zufall, Schicksal, dass wir da sind, wo wir sind.

Welt, wie ich sie meine, ist keine Idee, keine Fiktion und auch nicht etwas so Grandioses wie, dass alle Menschen Schwestern und Brüder wären, was sie tatsächlich in jedem guten und in jedem schrecklichen Sinne sind. Welt tritt in Erscheinung im Moment unserer Geburt. Der Bauch, das Bett, das Zimmer, das Haus, die Straße, die Stadt, das Land sind Stationen einer ewigen Wiederholung, die ebenso wenig mit der Geburt beginnt, wie sie mit dem Tod endet. Und können wir nicht Teil von ihr sein, sind wir amputiert.

Die euphorische Anfangszeit mit ihren geistigen Höhenflügen und erotischen Entdeckungsreisen und dem revolutionären Pathos endete nach kurzer Zeit und zunächst in einem Wust von Banalitäten und Krämerhaftigkeit, den Szenen einer Ehe nicht unähnlich. Auf irgendeine und mir selbst immer noch im Ganzen unbegreiflicher Weise vollzog sich dann jedoch eine Wandlung, die vom Aufbruch in den Bruch mündete. „Verwaltung für Staatssicherheit Groß Berlin, Abteilung XX/2. Im Jahre 1970 setzte unter einem Teil der vorgenannten Personen ein politischer Klärungsprozess ein, der einen konsequenten Abbruch zu Robert Havemann und Wolf Biermann zur Folge hatte. Franziska Großer verharrte auf ihrer politisch negativen Position. Während sie den Kontakt zu Havemann, Berthold und weiteren Personen, die ihre bisherige politische Haltung einer ernsthaften selbstkritischen Prüfung unterzogen, abbrach, behielt sie ihren engen Kontakt zu Havemann und Biermann bei. Sie unterhält Kontakte nach Polen, in die CSSR und in die BRD. Nach inoffizielle Feststellung wurde sie durch Rudi Dutschke aufgesucht.“

Petzold/Kaiser beschreiben selbiges auf ihre Weise: „Die Distanz zur Dissidenz äußerte sich in der S.-Straße auch familiär auf fast tragische Weise. Frank Havemann distanzierte sich 1970 von seinem Vater, nachdem dieser in der kommunalen Wohnung ohne kollektive Erlaubnis ein Spiegel-Interview gegeben hatte. Über zehn Jahre verweigerte der Sohn daraufhin jeden Kontakt. In den täglich angesetzten Diskussionsrunden debattierte die Kommune sogar darüber, ob Frank seinen Familiennamen ändern müsse, damit die Gruppe bei den staatlichen Organen nicht mit dem Oppositionellen in Verbindung gebracht werden könne. So wurden die einstigen Vorbilder zu Klassenfeinden. Die Kommunarden erteilten Havemann und Biermann schließlich Wohnungsverbot. Nur Franziska Großer, die später Kommune und Land verließ, räumte den beiden in ihrem Zimmer weiterhin ein Gastrecht ein. Bei einem ihrer Besuche konnten sie an der Kommune-Wandzeitung ein Dekret der besonderen Art lesen: Beschluss des Wohnkollektivs. In Erwägung, dass Havemann und Biermann in der Theorie vom Marxismus-Leninismusmuss zum Revisionismus übergewechselt sind, beschließen wir 1. Havemann und Biermann nicht mehr in unsere Wohnung hinein zu lassen. 2. Falls Franziska versuchen sollte, sie hier zu empfangen, dies als offene Provokation aufzufassen.“

Warum der Dissens zur Dissidenz eintrat, weiß keiner so recht zu verdeutlichen. In den Schilderungen der Altkommunarden findet sich kein Hinweis, in Interviews ist nebulös von Entwicklung und Wandlung und Einsichten die Rede. Faktisch bildet der Ekla um Robert Havemanns Spiegel- Gespräch den Auftakt zu der kurze Zeit später in tagelanger Arbeit von Gert Großer und Frank Havemann verfassten Absage an Biermann und Havemann, ein in fürchterlichem Politkauderwelsch verhüllter Autoritätenkonflikt und Vater-Sohn-Konflikt, der dann eine Eigendynamik entwickelte. Der große Freundeskreis schlug sich entweder in die Büsche oder auf meide Seite oder bildete mit Großer, Havemann, Berthold und Labsch zusammen eine Gemeinschaft. Fortan war der Ort an dem ich lebte, keiner, wie Adorno es formulierte, an dem man ohne Angst als jemand von anderen Verschiedener leben konnte.

Während ich verzweifelt nach einer Wohnmöglichkeit für mich und die Kinder suchte, wurde die Wohnung gegen eine größere eingetauscht. Eine eigens für mich entwickelt der Hausordnung legte fest, wann ich mich wo aufhalten dürfe und wann und wo nicht, gestattete mir gnädig, mich selbst um meine Kinder zu kümmern und gipfelte im zitierten Hausverbot. Rosa Luxemburgs Forderung nach der Freiheit der Andersdenkenden, kurz zuvor noch auf ein Transparent gepinselt, galt hier nicht. Sämtliche Bücher von Havemann und Biermann sowie andere gegenüber dem Realsozialismus kritischer Autoren wurden im Ofen verbrannt. O-Ton Berthold: „Hiermit überantworte ich dem Feuer die Schriften von…“

In meinen Akten fand ich den fassungslosen und ungläubigen Bericht eines Stasi-Spitzels über die Bücherverbrennung. So schnell hatte der Staatssicherheitsapparat die Kehrtwendung der Kommunalen gar nicht begriffen.

O-Ton Klaus Labsch: „Es war eine unglaublich radikale Politisierung, die aber auch alle anderen Lebensbereiche erfasst hat. Das Zusammenleben wurde ziemlich formalisiert. Es gab zum Beispiel ein sehr strenges Regime, was den Umgang mit dem verbliebenen Zeitbudget anging. Wir haben das als völlig normal empfunden. Revolutionäre haben keine Freizeit. Wir haben auch kein Privatleben. Es gab so einen ironisch gemeinten Spruch unter DDR-Funktionären: Wer lacht, hat noch Reserven.“

Annette Simon: Vor den Vätern sterben die Söhne: „Nach ihrer Verurteilung wurde Erika Berthold von der Schule geschmissen und konnte das Abitur nicht ablegen. Sie machte eine Lehre als Bibliothekarin und lebte zusammen mit ihrem Freund in einer der beiden Wohngemeinschaften, die es überhaupt in Ost Berlin gab. In dieser WG versuchten sich die Mitglieder auf verschiedene Weise mit der DDR auseinanderzusetzen und spalteten sich. Der eine Teil ging mit Ausreiseantrag in den Westen, die Gruppe um Erika Berthold entschloss sich, in der DDR zu bleiben und ihre Institutionen zu nutzen. Das führte zeitweise auch zu einer scharfen Abgrenzung zu den eins idealisierten Vorbildern. Berthold trat in die SED ein, arbeitete später in einem Betrieb und dort in der FDJ-Leitung mit. Sie habe immer  versucht, für Leute etwas zu tun, Verhältnisse menschlicher zu machen, mit unterschiedlichen Erfolg sagt sie heute. Im Herbst 89 wollte sie den Erhalt einer veränderten DDR. Jetzt steht sie der PDS nahe, ohne Mitglied zu sein… So merkwürdig können ostdeutsche Biografien sein.“

Weiß Gott. Ich benutze hier, Annette Simon möge mir verzeihen, nur deswegen diesen Ausschnitt aus ihrem Text, weil er aus Erika Bertholds eigenen Worten gespeist ist.

Während ich mit meinen Erinnerungen und denen anderer befasst war, las ich bei Elliot Weinberger dies: „Wortsworth und Proust gehen bei ihren Suchen nach der verlorenen Zeit davon aus, dass das Gedächtnis ein Strom ist, ein Strom, dem sie flussaufwärts folgen. Doch die Erinnerung ist ein Strudel, eine Gleichzeitigkeit. Ganz gleich, um welches Thema es sich handelt, die Erinnerung denk stets an etwas anderes, schöpft ständig neue Stilleben, Kollagen. Die reine, unmögliche Biografie oder Autobiografie schafft nur Konstellationen aus diesen Assoziationsketten, Abschweifungen und unverständlichen Gedankensprüngen. Sie kümmert sich nicht um Zeit. Die Technik der Rückblendung ist im Kern ein künstliches Umarrangieren der chronologischen Abläufe. Mit Erinnerung hat das nichts zu tun. Das Erinnern denkt an den Beginn, den Verlauf und das Ende zugleich. Der Sinn für Zeit besteht nur in ihrem Verlust.“

Nachdem ich unversehens zum Klassenfeind avanciert war, pendelte ich zwischen der Wohnung und den winzigen Behausungen von Freundinnen und Freunden hin und her. Meine Tochter Finchen kam mit Stoffwechselstörung für eine Woche ins Krankenhaus. Ich konnte den Kindern keine Fröhlichkeit, keinen Mut, kaum Schutz und Geborgenheit bieten. Eine Wunde, die nie ganz vernarbt ist. Dieser Teil einer gemeinsamen Geschichte kommt in den Erinnerungen der anderen Kommunarden nicht vor. Da verschwinde ich ganz einfach mit den Kindern irgendwie im Westen. Tatsächlich war von einer Ausreise, die 77 nach massivem Druck, Verhören und Hausdurchsuchungen erfolgte, zu diesem Zeitpunkt nicht entfernt die Rede. Meine größte Sorge zu dieser Zeit war die: Vor dem Scheidungsgericht hatte Gert Großer das Sorgerecht für die Kinder beantragt, da ich „nicht willens und nicht im Stande sei, die Kinder im sozialistischen Sinne zu erziehen.“ Dass ist dazu nicht kam, verdanke ich einer Richterin, die eine solche Argumentation nicht überzeugte.

Mein Wohnungsproblem löste ausgerechnet die Stasi. Für mich ein Glück und das Ende eines Alptraums. Die Stasi machte der Kommune ein Ende, indem sie sich auf irgendwelche Gesetze den Wohnungstausch betreffend berief und allen in der Wohnung gemeldeten Personen getrennte Wohnungen zuwies.

O-Ton Labsch: „Wir waren bestrebt, die letzte Hürde zu nehmen, die letzte Bestätigung für uns war wirklich, in die Partei zu kommen. Wir haben regelrecht gekämpft darum. Gekämpft und – das ist jetzt vielleicht ein wenig schmerzhaft – wir haben regelrecht gebuhlt. Wir haben uns klein gemacht. Daß die Staatssicherheit an uns alle einzeln herantrat und uns um Mitarbeit bat, war für uns natürlich der allerletzte Beweis: Jetzt haben wir es geschafft. … Wenn die Leute, die uns vorher jahrelang beobachten mussten, uns zur Mitarbeit bitten, das war für uns: jetzt sind wir endlich mittendrin. Jetzt sind wir nicht mehr die Außenseiter und ewig Beargwöhnten. … Nun ist die Frage, was wir dann gemacht haben, als wir letztendlich im Zentrum der Bewegung drin standen. Vielleicht können wir jetzt formulieren: Von dem Punkt an ging es bergab.“

Zum Schluß noch ein Blick in meine Akten: Da schreibt Gert Großer: „Der 21. August 1968 war für mich ein sehr wesentlicher Tag, denn ab diesem Tag wurde ich zur politischen Aktivität provoziert. Durch Westfernsehen hatte ich die Vorstellung von einem sehr „menschlichen“ Sozialismus, ich meinte, dem Individuum würde endlich mehr Freiheit zugebilligt. Als ich von den Maßnahmen seitens des sozialistischen Lagers hörte, war ich empört und der Ansicht, man müsse dagegen etwas tun. Zusammen mit (geschwärzt) schrieb ich auf die Straße von Köpenick nach Müggelheim die Losung: Es lebe Dubcek! Am anderen Tag schrieben meine Frau Franziska und ich Losungen auf Flugblätter wie: Russen raus aus Prag! Freiheit für die CSSR! und ähnliches.“ Unterzeichnet ist dieses Papier mit „IM Walter.“

Mich hat als Kind schon immer die Frage fasziniert: Wohin das alles geht, was von der Welt verschwindet. Und ich stellte mir vor, wie am Ende unsichtbare Dinge unsere Welt bevölkern und sichtbare Dinge im All umhertreiben. In bestimmter Hinsicht habe ich die Vorstellung beibehalten. Ich glaube, dass alles, was einmal geschehen ist, Liebe und Verrat und Grausamkeit und Güte auf immer in der Welt bleiben und in unser geistiges und psychisches Leben eingehen und zum Bestandteil des ganzen Gefüges werden, das wir Welt nennen. Und wenn nun die 80er Tomate für etwas steht, das droht übergangen zu werden, bin ich dafür, sie auf die Umlaufbahn zu schicken.