Warum nicht Klagenfurt

In gewisser Weise ist dies auch eine Berliner Geschichte. Niemals war mir diese Stadt ein Ganzes, und ist es auch gegenwärtig nicht. Und das liegt nicht daran, dass sie noch nicht zusammengewachsen ist, da kann sie wachsen wie sie will, ihre Teilungen wachsen mit. Für die folgenden Generationen gilt das nicht mehr in gleicher Weise. Aber für meine Generation, für mich wird diese Stadt immer auseinandergerissen sein, und diese Art von Rissen und Zerfetzungen ist in mich eingewachsen. Das Zerrissene, das Zerfetzte bin auch ich.

Ein Foto: Ich sitze auf den Stufen, die zum Eingang des Berliner Doms hinaufführen. Ich trage Sandaletten und eine Dreiviertelhose. Blickrichtung ist die Straße Unter den Linden, an deren Ende sich das Brandenburger Tor erhebt. Ich bin 16 Jahre alt, es ist Ende August 1961. Wenige Wochen zuvor hatte ich meiner Mutter verkündet, ich ginge in den Westen. Mein Vater, der in München lebte, würde gezwungenermaßen für die Internatskosten aufkommen müssen. In einem Anfall unsäglicher Enttäuschung und Wut hatte ich die Schule geschmissen. Statt über eines der gewünschten und stillschweigend vorausgesetzten Vorbilder Thälmann, Lenin zu schreiben, hatte ich eine moralische Idee, eine Geste,  gewählt, eine Geschichte aus Rilkes Malte Laurids Brigge. Mein empörter und in der Empörung beim Sprechen spuckende Deutschlehrer schrie etwas von unerträglichem und verbotenem bürgerlich-revisionistischen  Gedankengut, dem ich offenbar verfallen sei. Er war Einsen für meine Aufsätze gewohnt. Er gab mir eine Drei. Seine Form von Kompromiss oder Entgegenkommen. Ich sagte, die Mittelmäßigkeit einer Drei sei unmöglich, es kämen nur eine Eins oder eine Fünf in Frage. Da schrie er: Wie Sie wollen! Fünf! Aus! Da packte ich all meine Bücher, knallte sie auf den Lehrertisch und schrie: In diese verdammte Schule komme ich nie wieder! Ich nahm meine Schultasche und ging.
Ich weiß nicht, sagte ich verflucht oder verdammt, aber es war eins dieser Worte von biblischer Wucht. Ein wunderbarer dramatischer Moment, ich schwenke meinen Pferdeschwanz, richte mich auf, strecke meinen Arm aus und verfluche die Schule. Noch immer lache ich, wenn ich daran denke.
Auf dem Nachhauseweg weinte ich unablässig, erschrocken über mich und erleichtert zugleich, ängstlich, was nun werden solle, meine arme Mutter würde in zitterndes Gestammel verfallen. Allein die Elterversammlungen in den Schulen ihrer drei Töchter versetzten sie schon Tage zuvor in Erstarrung. Ich färbte mir am gleichen Tag die Haare blond und schrieb einen langen Brief an den Lehrer einer westdeutschen Freundin, er möge mir ein Internat suchen. An dem Tag, an dem ich meiner Mutter sagte, ich würde in den  Westen gehen, eröffnete meine Mutter mir, auch sie trage sich des längeren mit der Absicht und bitte mich, noch etwas zu warten, bis sie ihre Dinge geregelt habe. Der Bitte konnte ich mich nicht verschließen, allein schon deswegen nicht, weil meine sogenannte Republikflucht unweigerlich meine Mutter ins Visier der Staatsschützer gerückt hätte. Ich blieb, während die zu regelnde Dinge meiner Mutter in winzigen Portionen Wäsche, Hammer, Nagel, Geschirr, Papieren bestanden, die über die Grenze zu bringen waren. Ihr Ratgeber, mein Onkel Karl aus Köln, hatte sie derartig mit Besorgnis und Existenzangst geimpft, sodass jedes Stück in den Westen transportieren Hausrats ihr ein Stück Sicherheit mehr und ein Stück Panik weniger bedeutete. Am 13. August war ein Teil unserer Dinge weg im Westen, aber wir waren noch da.
In den Monaten darauf setzte meine Mutter alles daran, wieder in den Besitz zumindest der Familienpapiere zu gelangen. Der Freund eines Freundes meiner westdeutschen Freundin brachte sie einzeln und in seinem Unterzeug verborgen durch die Grenzkontrollen.
Als Zeichen ihrer Dankbarkeit abonnierte meine Mutter eine Reihe von Konzerten und Opern in der Staatsoper unter den Linden. Wenn sie ihn nicht begleitete, tat ich es. In der Pause zu Boris Godunow fragte mich Henry, ob ich die Bilder einer Ausstellung kennen würde, und ich fragte, welcher. So beschämt ob einer Unwissenheit und Unbildung fühlt man sich nur mit sechzehn. Eine der drei ersten eigenen Schallplatten, abzuspielen auf einem kleinen Kofferplattenspieler, waren Mussorgskis Bilder einer Ausstellung mit Svjatislav Richter.
Meine Freundin Jean, eben jene, die mir den Plattenspieler angeschleppt hatte, war derweil zum Studium nach Hamburg gezogen. Von dort organisierte sie einen westdeutschen Pass für mich und schickte mir Kleidung; von der Unterhose bis zum Söckchen und zum Lippenstift Westzeug. Als es soweit war, wurden Passierscheine eingeführt. Ebenso verhielt es sich mit einem ausländischen Pass. Ich blieb, wo ich war. Und wenn Jean mich fortan in Friedrichshagen besuchte, brachte ich sie anschließend zum Übergang Bahnhof Friedrichstraße. Wir rauchten in der kalten S-Bahn. Und wenn ich dann allein zurückfuhr in die Enge meines Lebens, war mir übel vor Kummer und Elend.

Ein zweites Foto: Februar 1982,  ich bin hochschwanger mit meinem dritten Kind, noch immer trage ich eine der eulenrunden Brillen, die ich bevorzugte. Die erste war eine Spezialanfertigung von einem Optiker in der Frankfurter Allee („Bei Augenqual zu Zapplethal“), die ich hatte mehrmals reparieren lassen im Laufe der mehr als zwanzig Jahre.
Schnee fällt. Ich stehe auf einem der Aussichtstürme an der Berliner Mauer, der Blick geht über die verschneite Fläche des Potsdamer Platzes, an dessen Ende sich eine Nebelwand erhebt. Das Weiß der Ebene geht über in verschwommene sich im Winterweiß verlierende Bauten und in einen weißen Himmel über all dem, über mir genauso wie über der Mauer und dem Platz und dem in der Ferne gewussten Ostberlin.
In meiner Wohnung in der Stauffenbergstraße hingen beide Fotos  nebeneinander an einer Wand. Und sehr oft, wenn mein Blick darauf fiel, fühlte ich ein Gefühl von Teilung und Verdoppelung, von gleichzeitiger Gegenwart und Vergangenheit. Ich fühlte, wie sich die Zeit ineinanderschob, sodass Gegenwart in der Vergangenheit auftauchte und das Vergangene plötzlich gegenwärtig schien. Beider Blick geht ins Andere,  in die versperrte Zukunft und die versperrte Vergangenheit, und beides ist in beiden Fällen eins. Und das Gehirn der 37jährigen sendet in das Gehirn der Sechzehnjährigen eine Nachricht: Ich bin jetzt da, wo du damals sein wolltest. Aber in der Zwischenzeit habe ich einen nicht unbeträchtlichen Teil meines Erwachsenenlebens, meiner Kraft und meiner Phantasie dort investiert, und mein Herz hängt an diesen Stufen und dem Berliner Dom und dem Himmel darüber und dem kleinen geheimen Zugang unterhalb des Doms zum Kanal, wo ich manchmal mit meinen Zeichnungen saß.
Meine Mutter zu verlassen, wäre einfach für mich gewesen. Ich hatte ihr lange genug beigestanden, ich war meinem Vater nicht nach München gefolgt, als er mich darum bat. Zu meinem Vater zu ziehen, war hingegen undenkbar, so gründlich war er in seinem neuen Leben mit neuer Frau und neuen Töchtern  und aus meinem verschwunden. Dennoch wäre ich ihm näher gerückt. Jetzt, als ich frisch im Westen war, war ich ihm tatsächlich näher gerückt. Ich schrieb ihm, ich teilte ihm in dürren Worten meine und die Ankunft der Kinder im Westen mit und ersehnte im Stillen Väterliches, Rat und Unterstützung, ein herzliches Willkommen, all das, was meinen Erfahrungen gründlich widersprach und doch als Sehnsucht nicht auszurotten war.
Eine Erinnerungslücke: Ich weiß nicht mehr, ob er mir überhaupt geantwortet hat und wenn ja, mit welchen Worten. Ich denke, wenn er es getan hatte, wüsste ich es, würde es irgend etwas ausgelöst haben in mir zwischen Enttäuschung, Verletzung, Ernüchterung. Aber vielleicht war es genau das und fügte sich nur ununterscheidbar in die Reihe anderer Enttäuschungen und Ernüchterungen ein.

Meine Mutter und meine Schwestern waren Anfang der 70er Jahre mit Hilfe einer Fluchtorganisation in den Westen gegangen. Bei den darauf folgenden Verhören wurde ich gefragt: Was wollen Sie noch hier? Was geschieht nun, da Ihre Mutter nicht mehr da ist, mit ihren Kindern, wenn Sie ins Gefängnis kommen? Die zwischen den Fotos liegenden Jahre waren bestimmt vom Fußfassen im Erwachsenenleben, von der „Kommune 1 Ost“, von einem Schwein namens Erich, von unendlich vielen Anfängen, die ins Leere liefen, aber angefangen werden mussten, was sonst wäre dieses Leben? Kindertheater, Lesungen, Ausstellungen… Zermürbt von Bespitzelung, Verhören,  Hausdurchsuchungen, in den Westen geschubst, kam ich 1977 mit den Kindern nach Westberlin.
Wir wohnten zunächst bei meiner Freundin Jean, die eine einjährige Gefängnisstrafe im berüchtigten Frauengefängnis Hoheneck verbüßt hatte wegen irgendwelcher zusammenkonstruierter Fluchtgeschichten, in die nicht sie, sondern ihr Auto verwickelt war. Sie sprach nicht über diese Zeit, sie tat sie ab, sie tat, als wäre sie eine Westfrau, der im Osten nicht wirklich Schlimmes widerfahren konnte. Wir waren beide in einem merkwürdig somnambulen Zustand, von dem aus wir einander und unsere alten Geschichten kaum mehr erkannten.
Und doch gab es glückliche Momente, ein plötzliches Wiedererkennen und eine Erinnerung an Kaugummiautomaten, und die kleinen begehrten Ringe, die Micky-Maus-Hefte, das Haus, in dem eine Tante gewohnt hatte, der Bahnhof Zoo, Kinos, eine Straßenecke … Und in diesem Wiederfinden lag eine private kleine eigene Insel in diesem Meer aus Fremde. Und das konnte ich den Kindern zeigen und ihnen Erinnerungen aufzählen, die so gierig waren nach etwas, worüber sie sich freuen konnten und die so gierig danach waren, auf Freude bei mir zu stoßen.
Ich war nicht frei, ich war nicht offen für Zukunft, nicht für die Gegenwart, ich war nicht einmal selbst gegenwärtig, obwohl ich mich so anstrengte.  Das Verschwundene war ja mehr als ein Land, eine Heimat und biografische Gegend. Ich war nicht gekommen, um hier zu sein, sondern weil ich dort weg musste. Diese Art von gefühlter Staatenlosigkeit erleichtert ein Ankommen in der wirklichen Wirklichkeit nicht gerade. Uwe Johnson: Die gesellschaftliche Lüge saß auch hier in Stich und Faden, aber die Weberichtung war eine andere und die Wahrheit schien an ganz unverdächtigen Stellen durch.
Ich war ja auch eins dieser verstoßenen Kinder von Vater Staat und Mutter Ideologie, denen es zusteht, mit ihren Eltern zu rechten und ihnen all ihre Enttäuschung und Verzweiflung vor die Füße zu schleudern oder ihnen entgegenzuspeien. Die es aber nicht ertragen, wenn von satter anderer Seite beschrieben und beurteilt wird. Da springt dann plötzlich dieses „Wir“ und dieses „Bei uns“ aus einem heraus. Oder womöglich diejenigen, denen die DDR ohne eine Überprüfung auf Wahrheit ein Ort der Erfüllung schien. Das wurde so vorgefunden. Schnell erwies es sich als lebenswichtig, Vereinnahmungen zu erkennen und ihnen auszuweichen. Es war nun so schwer nicht, Gleichgesinnte und Gleichgestimmte zu finden. Und mit ihnen zusammen einen eigenen definierten Raum in der Fremde zu schaffen, der sowohl genügend offene Türen als auch schützende Winkel vorzuweisen hatte, aber es dauerte.
Johnson über das „Dritte Buch Achim“: Es stellt sich heraus, dass der Westdeutsche den Ostdeutschen nicht versteht und dass der Ostdeutsche die Art, wie der Westdeutsche das Leben in Ostdeutschland zu erklären versucht, vehement missbilligt. Sie haben eine gemeinsame Sprache mit Wörtern, die ähnlich klingen, aber für jeden einzelnen sind diese Wörter mit einer bestimmten Ordnung, einem System, einem bestimmten Wertsystem assoziiert und beziehen sich jeweils auf unterschiedliche Positionen.
Ich existierte in einem schwer zu fixierenden und zu beschreibenden fragilen Zustand, der ständig drohte, in einen anderen fragilen überzugehen und zu zerbrechen oder sich zu verflüssigen und auszulaufen. Das wahrhaft Beängstigende daran war, dass ich ihn als einen solchen nicht erkannte, nicht anerkennen durfte, sondern ganz im Gegenteil, alles daran setzen musste, ihn vor mir selbst, den Kindern, allen anderen Menschen  zu leugnen und zu verschleiern. Ich war lange Zeit damit befasst so zu tun als ob. Das hatte einige provokativ trotzige Züge: Egal, an welcher Stelle der Welt es mich verschlägt, ich werde nicht aufhören, Falsches und Ungerechtes zu bemerken und zu benennen.
Das hatte deutliche Zeichen eines tiefen Unglücks. Ich wachte oftmals mitten in der Nacht mit einem Ruck auf, zitternd, und in dem Bewusstsein einer geradezu kindlichen, säuglingshaften Ängstlichkeit und Hilflosigkeit. Dann wusste ich, so erwachsen konnte ich gar nicht werden, dass ich imstande wäre, all die zur Sicherung unserer Existenz notwendigen Dinge zu tun, einschließlich Hoffnung, Fröhlichkeit und Gewissheit für die Kinder. Ich hatte mit dem Trinken angefangen, aber ich vertrug nichts, also ließ ich es wieder sein. Eine zumindest sporadische mit Gelassenheit verbundene Einnebelung alles Schweren und Dunklen hätte mir gefallen.
In den schlaflosen Stunden schrieb ich. Und las. In den nur mir gehörenden Räumen voller alter literarischer Freunde, voller Zwiesprachen, voller wieder und wieder Gelesenem – das war mein Trost, das war meine Verankerung in der Welt der Worte. Lesen ist immer Handeln, es ist der vertraute Boden, auf dem sich zwei Bewusstseine berühren, und ebenso zwei Unbewusstseine.
Eine der wenigen Dinge, die von wirklicher und am Ende erfüllter Erwartungsfreude begleitet waren, waren Bücher, Buchhandlungen, Bibliotheken, diese im Osten unstillbare Gier nach Literaturen, nach Gedichten, Romanen, Philosophie. Ich entdeckte Dylan Thomas, ich las Virginia Woolf, Brinkmann, Handke, ich traf Helga M. Novak wieder, die von allen am Heimwehkrankeste. Sie briet mir Lammkoteletts in der Eisenbahnstraße, sie sagte, erzähl mir von Grünheide, von Erkner, von Köpenick, und bei jedem Buch auf Tisch und Stuhl, das ich in die Hand nahm, sagte sie, nimm es mit, nimm es mit.

Meine erste eigene Wohnung hatte ich mir unter Zuhilfenahme einer gefälschten Bürgschaft von Prof. Dr. F.X. Eder erschlichen. Auf diese Weise hatte ich doch noch meinen Vater gezwungen, mir beizustehen. Im Grunde war die Wohnung eine Katastrophe, sie lag genau dort, wo der Westen, der Kapitalismus, die aggressive Warenwelt am Ungebrochensten und mit voller Wucht auf einen traf, Kantstraße, Ecke Wilmersdorfer. Ich behielt sie nicht lange. Sie wurde modernisiert, ich konnte sie nicht bezahlen, in meinem Unverstand kündigte ich und saß dann ohne etwas da. Vorübergehende Rettung kam von einem Menschen, der sich in meinem Umfeld bewegte und mir seine Wohnung für eine Zeit anbot. Zwei Zimmer, die wir vollgestellt hatten mit unseren Bücherkisten und Möbeln, es blieb kaum Platz für ein paar Matratzen, den Kindern gefiel so viel Improvisiertheit. Später stellte es sich heraus, dass dieser Mensch für die Stasi gearbeitet hat, wie es ja einige taten im Westen und was ebenfalls vorsorglich zunächst geleugnet werden musste.  Nach 89 rief er mich mehrmals an, er jaulte, er flehte um Bestätigung, dass er mir nie geschadet habe.
1979 zog ich mit den Kindern in die riesige Wohnung in der Stauffenbergstraße, die mir der damalige Kultursenator bzw. einer seiner Mitarbeiter vermittelt hatte. Ein Gefühl von Behausung stellte sich ein, durch den Umstand erleichtert, dass sie obwohl mitten in der Stadt quasi am Stadtrand lag, zwischen Tiergarten und der Mauer zum Potsdamer Platz.
Ich schrieb an einem Vorwort für ein Buch über die Jenaer. Ich war im Bahro-Komitee und beteiligt an der Vorbereitung des Kongresses. Ich hielt eine Rede. Heinrich Vormweg veröffentlichte sie in seiner L 76 und lud mich nach Köln ein. In der nächsten Ausgabe erschien meine Kurzprosa. Ich hatte Vormweg Gedichte von F.W. Matthies geschickt mit der Bitte, wenn sie ihm gefielen, sie im gleichen Heft zu veröffentlichen. Das geschah. Und war ein Stück Vergewisserung und Besiegelung, dass Flugrouten für Worte immer existieren würden.

Das Fremde, es gibt kaum ein Wort von solch mythischer Beladenheit, Aufgeladenheit – das Fremde ist ja auch zu einem großen Teil deswegen fremd, weil es genährt wird von Verlust und Trennung. Das Fremde ist mehr als das Unbekannte. Es gibt nicht das Fremde an sich.
In dem großartigen Film „Vor der Morgenröte“ von Maria Schrader gibt es eine Szene, die mir nach Jahren und Jahren noch einmal und mit einem heftigen Schlag meinen damaligen Zustand von einem geradezu zwanghaften Bemühen um Beheimatung in der Fremde vergegenwärtigte, du stehst dir selbst im Wege und gleichzeitig bettelst du um Beheimatung und fahndest nach Beweisstücken, nach Dingen, die sich mit dir und deiner alten Geschichte und deiner alten Identität verknüpfen lassen. Und so steht denn auch Stefan Zweig mit einem Notizblock inmitten  südamerikanischer Zuckerplantagen und versucht so zu agieren und so auszusehen wie der, den er in Erinnerung hat aus der alten Welt, der wie eh und je Recherchen betreibt und arbeitet und daraus seine Identität schöpft und verlängert und neu definiert. Trügerisch. Verzweifelt. Das gelingt nie. Und muss doch getan werden. Manchmal vergehen Jahre. Manche kriegen nicht die Zeit.
Ein anderes Element aus dieser ersten Zeit ist das einer schnell laufenden Zeit, die mir nicht genügend Raum im Gegenwärtigen lässt, sondern schon weiter geeilt ist ins Zukünftige. Ich eile hinterher, ich kann nicht lange genug im Heute verweilen, um das, was ich wahrnehme und erfahre und erlebe zu vertiefen. Und so ist es der Mangel und die Flüchtigkeit, die sich vermehren, wenn ich einigermaßen mit dem Verlauf der Zeit Schritt halten will. Und nichts will ich lieber, als erschöpft die Zeit anzuhalten, statt atemlos hinter ihr hinterherzurennen. Aber ich kann auch nicht Halt oder Stop rufen, ich bin verloren, wenn ich mich dem Sog überlassen, der mich dann unweigerlich zurückzieht ins Vergangene und in einen Stillstand und in irgendeinen wie Tod und Verderben gefürchteten Strudel reißt. Wir erinnern und prognostizieren fortwährend, und die Gegenwart trägt immer alle Dichte des Vorher und Nachher in sich, las ich bei Siri Hustvedt.
Meine subjektive Zeit fand keinen Halt und keinen Anschluss an die tatsächliche Zeit der Gegenwart. Das bedeutete ein immenses Leid. Eine Art Kleinkind-Verunsicherung, die sofort als lebensbedrohlich empfunden wird. Das Aufeinandertreffen und Auseinanderdriften von anscheinend Gleichem, Mensch, Sprache, der uns umgebenden alltäglichen Dinge, Speise Fahrzeug, der uns alle betreffende Regen, Winter … schafft im höchsten Maße eine Verdächtigung: Das alles hier hat seine offenkundige Berechtigung und Kontinuität, nur du selbst bist falsch darin.
Und ich saß nicht in eine Ecke gekauert und biss mir auf die Lippen, sondern ich strengte mich an, ich schrieb, ich kümmerte mich um meine Freunde im Osten, ich kaufte Babycremes und Windel, und schickte die Dinge durch Freunde, die in den Osten fahren durften. Ich machte mich mit jedem einzelnen Lehrer und jeder Lehrerin der neuen Schule in der Nähe der neuen Wohnung bekannt, um für meine ostschulgeschädigte Tochter jemand Verständnisvolles ausfindig zu machen (was gelang), ich hatte immer das Haus voller Gäste und immer stand eine Suppe auf dem Herd.
Wieder eine Erinnerungslücke: Ich kann mich nicht erinnern, mit welchen Worten und in welcher Weise mir Heinrich Vormweg von Klagenfurth erzählte: War es eine Mitteilung, er habe mich nach Klagenfurth eingeladen, war es ein Vorschlag, verbunden mit den Worten: Könnten Sie sich vorstellen … Gab es eine Erörterung, eine Erkundigung, ob ich so weit wäre … Ich weiß es nicht. Ich weiß auch nicht mehr, wie viel Zeit mir blieb, vermutlich einige Monate. Denkbar ist, dass ich auf eine Frage von Vormweg so etwas wie „warum nicht?“ geantwortet habe. Eine der vielen Sonderbarkeiten, die mir geschahen und denen ich begegnete, als wären sie ganz natürlich, aber hatten mit mir doch nichts oder wenig oder nur in einem sehr abstrakten Sinne zu tun. Ich war eingeladen nach Paris, und ich flog und hielt eine Rede und flog wieder zurück. Ich berichtete den Freunden. Es war mir wichtig, dass sie mich für einen Menschen hielten, der sich überall in der Welt zu bewegen weiß, und dass sie mich weiterhin als auf „ihrer Seite“ stehend wussten, der „bei uns“ und „wir“ sagte.
Ich schrieb an einem Text für Klagenfurth. Ich wusste, in der Jury saßen Walter Jens, Marcel Reich-Ranicki. Ich wusste, du liest deinen Text und ziehst dich dann als Person zurück, sitzt stumm da, während die Kritiker schlimmstenfalls über den Text herfallen und bestenfalls etwas Anerkennenswertes finden können. Ich hatte mir einmal eine Übertragung im Fernsehen angesehen. Dass die Wahrheit dem Menschen zumutbar sei, wusste ich schon in der DDR. Aber Klagenfurth und Bachmann waren nicht dasselbe, mir schien sogar, als hätte das eine mit der Person I.B. gar nichts zu schaffen. Ich konnte mich irren. Denkbar ist auch, dass ich jedes Stück Wirklichkeit bestehend aus den Elementen Ankunft in Klagenfurt, Auslosung der Reihenfolge, Lesung, Kritik, Unterkunft, Österreich … vollständig aus meinem Bewusstsein gelöscht hatte, wie ich vieles löschte, um einen Tag nach dem anderen zu bestehen, um Schritt für Schritt zurücklegen zu können. Was ziehst du an, fragte mich eine Freundin. Ich war vollkommen verdutzt bei dieser Frage. Ich hatte nichts. Nichts außer schwarzen Jeans und T-Shirts. Je näher der Termin kam, desto größer wurde die Unwirklichkeit. Ich bekam Telegramme und Fahrscheine und eine Mappe mit Unterlagen. Die dafür verantwortliche Dame hieß Romy. Sie wünschte mir eine gute Reise. Da war ich vor Angst wie erfroren. Am Tag vor meiner Abreise hätte ich Heinrich Vormweg antworten können: Nein, ich bin nicht so weit, weder mit dem literarischen Text, noch in irgendeiner anderen nur denkbaren Hinsicht. Der Text bin ganz ich, ich bin der Text. An meinem Herzen werden sie reißen, an meinen Eingeweiden zerren. Aber ich hatte diese Worte nicht. Ich sollte mich dem obersten Gericht stellen, ich war aber doch nur ein kleines Mädchen, und ich hatte nichts Schlimmes getan. Ich schickte ein Telegramm, ich käme nicht, ich sei krank.