SCHÖNHEIT RETTET DIE WELT

ZWISCHEN SCHWEIGEN UND SPRECHEN
Eröffnungsrede zum Bundeskongress  der Landesbeauftragten für die
Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes
Potsdam, Juni 2018


Schönheit rettet die Welt, sagt Dostojewski, der wie kein Anderer die Abgründe des Menschen ausgeleuchtet hat. Nur wenige Jahrzehnte später wird Nadeshda Mandelstam, die Frau des von Stalin ermordeten großen Dichters Ossip Mandelstam, das Jahrhundert, in das wir hineingeboren wurden, das „Jahrhundert der Wölfe“ nennen. Die abgründigste Zeit der europäischen Geschichte – zwei totalitäre Herrschaftssysteme unterwerfen sich den Kontinent, Massenvernichtung, Schreckensherrschaft, Nazi-Terror, Stalinismus verbrennen die Erde.

Man liest bei Kleist, wie die Welt weder im Wissen noch im Fühlen zu erfahren ist, sagt Hertha Müller in ihrer Kleistrede. Wie alles aufeinander hilflos angewiesen und einander ausgeliefert ist. Es gibt für das, was das Leben ausmacht, keinen Durchblick. Nur gebrechliche Einrichtungen des Augenblicks. Und Zurechtlegungen, die nicht bis zum nächsten Schritt halten. Wo sich bei Kleist, „wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder einfindet“, da gelangte die Welt nach dem Nationalsozialismus und nach dem Stalinismus nie wieder hin.

In dieser Zeit leben wir, wir leben in dem Danach. Wir sehen, was angerichtet ist, und wir wollen darauf vertrauen können, dass Schönheit die Welt rettet. Nicht, weil wir hilflos-resigniert unsere letzte Kraft zusammennehmen zu einem Trotzdem oder zu einem Was-bleibt-uns-sonst, sondern weil wir als menschliche Wesen nicht anders können, als den gebrechlichen Augenblicken des Seins die ebenso flüchtige wie ewige Schönheit von Wahrheit und Erkenntnis zur Seite zu stellen, also etwas, das jede Generation von neuem tut und tun muss. Schönheit ist immer Schöpfung, die Hässlichkeit und Düsternis wahrnimmt und im Wahrnehmen verwandelt und nicht zulassen kann, dass die Welt in ihrem erbärmlichen Zustand rein auf ihre Erbärmlichkeit reduziert ist.

Das Sprechen und das Schweigen sind seit Anbeginn an die Zeit und an den Ort gebunden. Oder wie Camus sagt: Jeder Mensch ist heutzutage auf die Galeere seiner Zeit verfrachtet.
Wenn es in einer bestimmten Zeit nicht geraten ist zu sprechen, zu erzählen, aus der Bedrängnis der inneren Worte etwas aus dem Kopf über die Zunge, zwischen den Zähnen hindurch ins Freie zu entlassen, sondern es einzusperren und zu schützen, weil nur so der Mensch in seiner fragilen Sicherheit bleiben kann, dann kann das, was hätte erzählt werden sollen, nicht einmünden in eine Befreiung und nicht eingehen ins Wissen der Welt. Das, was in sich behalten wird, wird zu etwas Festem, zu einem Stau, der fortan wie ein Stein im Leben mitgeschleppt werden wird. Und wir wissen, ein Stein erzeugt nur wieder Steine.
Die Metapher vom Runterschlucken lässt offen, ob das Runtergeschluckte ausgeschieden werden kann oder als Gift seine inneren Bahnen zieht oder als Stein liegen bleibt und nicht vor und zurück kann. Dasselbe gilt für Worte, die wir aus unserem Bewusstsein verbannt haben und die in eine andere Daseinsform eingegangen sind, in etwas Fernes, nicht zu uns Gehörendes, das sich aber ebenso wenig auflöst und seine geheime Wirkung dennoch in uns entfaltet.

Es gibt konkrete historische Voraussetzungen für eine Kultur, für eine Sprache. Wir befinden uns immer in einem geistigen Zustand von dem, was gewesen ist, und dem Kommenden, dem, was sein wird. Und die Art und Weise, wie wir das Gewesene in unser Leben eingelagert haben, bestimmt unsere Vorstellung von Künftigem und unsere Fähigkeit, das gegenwärtige Erleben zu begreifen und zu strukturieren. Und immer werden unsere Sprache und unsere Erinnerungen bestimmt sein von den Elementen dieser Zeit und dieses Ortes. Und es wird einen Unterschied in den Generationen machen, ob einer beim Wort Abholen zusammenzuckt und ein anderer darunter nichts Anderes  als den Empfang eines Gastes am Bahnhof versteht.

Eine der eindrücklichsten Erfahrungen meiner Kinder- und Jugendzeit, vielleicht die eindrücklichste überhaupt, ist die, die sich mit dem Gegensatzpaar Wortlosigkeit und Bücher, Schweigen und Lesen verbindet; die Wortlosigkeit meiner Mutter, das düstere Schweigen meiner Großmutter, die für uns Kinder kein einziges Wort über die Scheidung meiner Eltern fanden, deren ausgedünnte Sprache allein der Bewältigung eines Alltags diente und zudem von stiller Furcht vor der allmächtigen Staatsmacht begleitet war. Noch in ihren späten Jahren sagte meine Mutter öfter, und wie mir schien, nun mit einem von Bedauern durchwebten Tonfall, es sei ihr nicht gegeben, ihre Gefühle ausdrücken zu können. Aber natürlich, das war meine Erfahrung, drückte sie immer Gefühle aus, auch ihr Schweigen war ein Ausdruck, ihre Mimik, ihre Körpersprache, ihre Zurückhaltung in Berührungen … Weiches, Zugeneigtes gingen in den ihr möglichen Ausdrucksformen beinahe vollständig unter. Was sie meinte, war, dass sie keine Worte fand für ihre Gefühle, für die Freude über die kleinen Geschenke, die wir ihr machten, die Anerkennung für die Beflissenheit, mit der wir die Aufgaben erfüllten, die sie uns aufgetragen hatte. Zeit ihres Lebens sollte das so bleiben. Meine Schwestern und ich waren im Enträtseln und Interpretieren aus Not erfinderisch geworden; war da nicht ein leichtes Heben ihrer Mundwinkel zu erkennen? Blitzte in den Augen nicht etwas auf, das man für eine Freudigkeit, gar eine Belustigung halten könnte?
Als meine Mutter ihre Berufstätigkeit begann, sie war über Jahre in der Kinderbuchabteilung der Staatsbibliothek beschäftigt, trug sie Woche für Woche Bücher ins Haus, die ich allesamt verschlang. Ich las sozusagen parallel  Shakespeare und Karl May und den Grafen von Monte Christo, ich las Jules Verne, Erich Kästner, Märchen, Tiergeschichten und die Sagen des Altertums. Ich las das Tagebuch der Anne Frank zu einer Zeit, als es in der DDR noch gar nicht erschienen war. Ich fraß Wörter, ich schlang Wörter in mich hinein, fortan sollte dies meine Leibspeise sein, das, was mich im Eigentlichen nährte und was sich wie eine Art Gegengewicht zum Schweigen gesellte. Was mir mein Umfeld im Schweigen entzog, holte ich mir aus den Büchern zurück. Es war ein unbewusster Weg, nicht auch in dieses Verstummen abzurutschen und statt dessen eine innere Sprache zu erlernen, einen inneren Diskurs. Ich spürte, ich ahnte, wenn Worte fehlten, käme das bewegte Leben zum Erliegen, versiegte der Strom, der uns mit unserer Zeit und dem Leben der anderen Menschen verbindet. Denn außerhalb der familiären Welt erfuhr ich nichts anderes. Schule, Zeitung, Politik: Schwei-gen und Verschweigen, das Hinter-der-Hand-Reden, das Verdrehen, das offene Lügen, das aus Angst Zurückgehaltene. Einweisungen in die Form und die Regeln des Lebens in dieser Zeit, Einweisung in Doppelzüngigkeit, das eine denken, das andere sagen, Erwartungen erfüllen …
Dies alles war vielleicht der Ursprung für meinen unstillbaren Hunger nach dem wahren Wort, nach dem Raum unter der Lüge, nach Diskurs, all dem, was mich von der Schulzeit an über die jungen Erwachsenenjahre der Staatsmacht und ihren Vertretern so unbeliebt und suspekt werden ließ.

Am Anfang war das Wort, schrieb Luther, und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort.
Unter den Sprachevolutionsforschern herrscht Uneinigkeit, die einen sagen, Musik und Tanz waren zuerst da, die anderen, es war die Sprache, die Musik hat sich danach entwickelt. Dass die Ursprache äußerst musikalisch war, ist hingegen belegt. Und die Herkunft der Sprache ist unumstritten: Wir sprechen alle ein bisschen Afrika.
Wo Leben ist, besteht das Bedürfnis nach Verständigung. Seit Urzeiten irritiert es den Menschen, dass er sich nicht mit dem, was außerhalb der Erde ist, verbinden kann. Hunderte von Geschichten über den Mann im Mond, über Außerirdische, über das Leben im All beschäftigen die Phantasie seit jeher. Als sei es ein dem Menschen innewohnendes Grundbedürfnis, eine existentielle Notwendigkeit geradezu, an jedem Ort, unter allen Umständen in ein Verhältnis einzugehen mittels Sprache – Mensch und Mensch, Mensch und Tier, Pflanze, Baum …

Dass sich etwas von der Seele zu reden oder zu schreiben das Gemüt erleichtert, wusste schon der heilige Antonius. Meine Kinder hatten früher winzige bunte Wollpüppchen aus Guatemala. Vor dem Einschlafen flüsterten sie ihnen ihre Kümmernisse zu. Dann wurden sie in einem gestrickten Beutelchen unters Kopfkissen gesteckt. Das Versprechen lautete, am Morgen würden alle Kümmernisse verflogen sein. Magie? Zauberei? Es war das Aussprechen, das wirkte.
Aber nicht immer brauchen wir Zuspruch und Rat und Kommunikation mit einer anderen Person. Der innere Diskurs mit sich selbst ist das Entscheidende, eine Neuordnung von Gedanken und Gefühlen und deren Bewertung.
Das, was wir seit dem heiligen Antonius und aus Erfahrung längst über die Heilkraft der Worte wissen, haben inzwischen auch die Wissenschaftler nachgewiesen. Aber nicht nur die kathartische Kraft des Aussprechens ist erkannt, sondern auch allgemein der Umstand, dass sich, indem etwas benannt wird, die Repräsentation im Gehirn verändert und Nervenzellen aktiviert werden. Allein eine Schreibintervention, an fünf aufeinanderfolgenden Tagen zwanzig Minuten lang über ein traumatisches oder belastendes Thema zu schreiben – expressives Schreiben – bewirkt, dass sich die Funktion des Immunsystems verändert, Wunden schneller heilen, Beschwerden von Asthmatikern gelindert werden. Es sinkt der Blutdruck, selbst Herzinfarktpatienten erholen sich schneller. Nicht zu reden von der positiven Wirkung auf die Psyche, bei Depressionen, Suchterkrankungen, posttraumatischen Belastungsstörungen. Messbar ist dies: Es sinkt der Spiegel des berüchtigten Stresshormons Cortisol. Schreiben oder Reden – ist ein biologisch wirksames Mittel.
Selbstverständlich ist diese Aussage nicht. Wenn man noch vor 15, 20 Jahren Therapeuten gefragt hätte, welche Rolle Wörter für sich genommen spielen, hätten sie je nach Lager unterschiedlichste Antworten gegeben. Doch die Mauern zwischen den Denkschulen bröckeln. Worte wirken nicht nur kathartisch, sie sind nicht rein instrumental, sie helfen dem Geist, sich analytisch mit Gefühlen auseinanderzusetzen, aktivieren Hirnprozesse. Der Nutzen einer Gesprächstherapie beginnt schon, bevor sich überhaupt neue Denkstrukturen in einem längeren Prozess ausgeprägt haben.

Und was war vor der Sprache? Können wir uns eine vorsprachliche Welt vorstellen? Eine Welt aus Stille? Nein, ganz und gar nicht. Was lebt, hat seine Melodie, seinen Schrei, sein Geflüster. Die vollkommene Stille existiert so wenig wie das vollkommene Weiß und das reine Schweigen. Im Weiß sind alle Farben des Spektrums präsent, in der Stille mindestens das Raunen des Alls und das des eigenen Organismus´, und im Schweigen schwingt die Sprache mit.
Was aber ist nun das Schweigen? Sind Sprechen und Schweigen ein Gegensatzpaar? Wo Sprache nicht ist, ist Schweigen? Wo Schweigen ist, kann Sprache nicht sein? Oder sind Sprechen und Schweigen miteinander verwandt, symbiotisch verbunden, das eine ist nichts ohne das andere? Ja, das halten wir fest: Sprechen und Schweigen, keines ohne das andere ist überhaupt nur denkbar.
Walter Benjamin sagt, im Schweigen befreie sich die Sprache und öffne sich zur Erkenntnis der „wahren Sprache“. Die Sprache beziehe sich durch sich selbst auf sich selbst, auf alles Unsagbare, das sich in allen Sprachen verborgen mitspricht.

Die Landschaft des Schweigens, das ist ein Gebiet zwischen Paradies und Pripjat. Sie kann aussehen wie ein Flussufer, wie eine Wiese voller Schaumgras, sie kann unendlich tröstlich sein, belebend und erfrischend, sie kann ein Bild für einen Moment völliger innerer Zufriedenheit sein, voller Dankbarkeit für das Gute (Glück ist Schönheit!), das wir erfahren haben oder das wir zu geben fähig waren. Sie kann eine große Stille sein, die sich in uns ausbreitet, weit weg von lauten Nichtigkeiten, aber auch den zweifelnden und verzweifelten Stimmen in uns. Für einen Augenblick kann es sein wie der Anfang der Welt. Oder wie Hölderlin sagt: Die Stille wohnt im Land der Seligen.
Die Landschaft des Schweigens kann aussehen wie Tod und Zerstörung, wie ein giftiges Nichts, das sich mitsamt den radioaktiven Strahlungen auf den Ort Pripjat gesenkt hat, der von allen Menschen in unbeschreiblicher Eile verlassen worden ist. Es stehen die verwaisten Häuser, aus dem Grün der Bäume erhebt sich ein rostiges verbogenes Riesenrad, in Schlamm und Geröll eine Puppe, ein einzelner Schuh.

Ich träume manchmal von einem Moment der absoluten Stille, in deren Raum sich etwas von existentieller Kraft ereignet, das einer Verbindung zwischen der Welt und dem tiefsten Inneren eines Menschen gleichkommt, einer Begegnung mit seinem wahren Ich. Ich träume davon, dass auf einen Schlag alle Handys versagen und die Menschen die Blicke anderer Menschen erwidern, erstaunt um sich sehen, als erblickten sie die Welt und die Kreaturen in ihr zum allerersten Mal, dass sie sich plötzlich in den Stand versetzt sehen, ihren eigenen inneren Stimmen zu lauschen, die sich dann vernehmen lassen, wenn sich im Gehirn so etwas wie eine kreative Leere ausbreitet, die zu einem kreativen Raum werden kann, in dem Gedanken und Bilder aus dem Urinnersten aufsteigen, und dass sie das Bedürfnis verspüren, diese seltsamen Dinge in gesprochene Worte zu verwandeln. Um, wenn das geschieht, das kostbare gesprochene Wort zu preisen, das freie Wort, die freie unverstellte Stimme, die in jedem Augenblick der Zeit irgendwo auf der Welt angegriffen oder den Menschen versagt ist.
Ich weiß natürlich, geschähe dies, würde ein einziger Wutschrei ins All steigen. Aber der Traum kehrt immer wieder und vermutlich träumte ich einen ähnlichen Traum lange vor der Erfindung des Handys.

Kehren wir zurück zum Ort und der Zeit. In Zeiten der Diktatur haben das Sprechen und Aussprechen und das Schweigen und Verschweigen eine besondere Bedeutung oder eine besondere Notwendigkeit. In unserer Beurteilung erscheinen das Sprechen und Aussprechen als mutig, als geboten, als moralische Pflicht und das Schweigen als Passivität, als Duldsamkeit, als Furcht. Das Aussprechen als Beschreibung von Unrecht, als Anklage, das Schweigen als stilles Einverständnis oder als Eingeständnis von Mitläufertum oder als Gleichgültigkeit, das kennen wir alles aus der Geschichte. Ebenso, in welchen Verkleidungen und Tarnungen Sprache daherkommt. Die Sprache der Wahrheit und die Sprache der Denunziation und die Sprache der Macht und die der Drohung und die der Angst. Und welche Worte kann man finden für ein Ereignis, das einem die Sprache verschlägt?
Sprechen und Schweigen haben so viel mehr Facetten, Ursprünge, Hintergründe und Bedingtheiten, als uns bewusst ist. Und sie haben ihre ganz eigene Zeit, in der sie als das eine oder das andere hervortreten.

Wie Sprechen und Schweigen, das vorgebliche Gegensatzpaar, aus ein und demselben Grund eins sein kann, soll diese Geschichte zeigen:
Jana und Jan, ein blutjunges Paar, das mit Janas Mutter auf gepackten Koffern sitzt, um der DDR ein für alle Mal den Rücken zu kehren, wird neun Monate lang letzten Indoktrinationen unterzogen. Auf diesen Ansturm von Versprechungen, Angstmache und Drohungen reagiert es auf ganz gegensätzlich erscheinende Weise, Jana, indem sie Kaugummi kauend während des ganzen Verhörs hartnäckig schweigt, Jan, indem er unentwegt redet, erklärt, sich rechtfertigt. Schweigen und Sprechen sind hier gleichermaßen Instrumente zur Wahrung der Selbstachtung und der Würde, für Jana, indem sie das, was auf sie einprasselt, mit Schweigen bestraft, für Jan, indem er einmal seine Meinung, seine Enttäuschung, seinen Zorn der Staatsmacht entgegenspeit.

In einer Diktatur kann man noch so viele Formen von Einschüchterung kennen lernen, es werden sich immer neue finden; das ist das Perfide an einem System, das auf Willkür aufgebaut ist. Mühsam und schmerzhaft hast du gelernt, was untersagt ist, wie Vaclav Havel in seinem Essay vom „Versuch, in der Wahrheit zu leben“ es so wunderbar eindringlich beschreibt, und beziehst daraus das, was erlaubt ist, aber keiner kann dir sagen, für wie lange das gilt.
Mein Sohn hat seine Initiation in einem Alter erfahren, als er für das Begreifen von dem, was ihm geschah, viel zu klein war.
Als ich 24 Jahre alt war und mein kleiner Sohn drei, war ich bereits in die Systeme von Einschüchterung und Verunsicherung eingeweiht und hatte meine Strategien entwickelt, in denen ich mich zwar nicht sicher fühlen konnte, die mir aber doch ein notwendiges inneres Gerüst und ein wenig Festigkeit verliehen. Ich bin mit mehreren Erwachsenen und unseren kleinen Kindern einem Verhör unterzogen worden. Und schwieg, ich tat meinen Mund nicht auf. Nach einiger Zeit blaffte plötzlich der Vernehmer: Ich kann ja mal Ihren Sohn befragen, der scheint ja ein aufgeweckter Bursche zu sein!
Und dieser eine Satz fuhr mir mehr als jede andere Drohung, die ich jemals erfahren habe, in mein Gemüt und blieb in meinem Inneren auf immer haften als eine Warnung, die ich bitter ernst zu nehmen hatte. Mein Sohn, von Geburt an gefährdet, in einem Alter, in dem er von Verweigerung und Selbsterhalt und Gefährdung und Denunziation nichts weiß, und für den doch, das sah ich in diesem Augenblick mit schrecklicher Deutlichkeit, die Modelle bereitlagen. Ebenso wie mir, sodass Muttersein eine weitere und eine böse Deutung erfuhr. Im Tiefsten war es dies, das mich endlich aus dem Land getrieben hat.
Mein Sohn, im Sternzeichen Waage geboren und im Inneren mit einer Waage zur Balance ausgestattet, reiste über Jahre als Jongleur in alle Winkel der Welt und spricht mehrere Sprachen. Dies und der Umstand seiner frühen Initiation scheinen nichts miteinander zu tun zu haben, doch ist es ein Leben, und seine Elemente bauen aufeinander auf und greifen ineinander zu einem Netz von Verbindungen und Folgerichtigkeiten. Eine fremde Sprache zu beherrschen, sagt man, weite die eigene geistige Existenz um ein Vielfaches. Und so erscheint es mir stimmig, dass sich mein Sohn die Welt so weit es nur ging geöffnet hat.

In der Zeit, als ich Führungen im Stasi-Knast Hohenschönhausen machte und mit sehr verschiedenen Menschen mit sehr unterschiedlichen Vorgeschichten zusammentraf, hörte ich öfter beinahe entschuldigend sagen: Wir wissen ja gar nicht, wie wir selbst gehandelt hätten. Man hätte es dabei bewenden lassen können, denn ja, wir wissen nicht, wie wir in der Stunde der Bedrängnis handeln, so wenig wie wir wissen, wie wir uns in der Stunde unseres Todes verhalten. Wenn nicht diese zweite Bemerkung auf die erste gefolgt wäre: Darum dürfen wir nicht verurteilen.
Ein solches Armutszeugnis, hielt ich dagegen, werden wir uns doch nicht selber ausstellen. Ich war nie in Argentinien, aber fühle ich deswegen weniger mit den Müttern auf der Plaza de Mayo, soll ich nicht mit ihnen das Verschwinden ihrer Kinder und Enkel anklagen? Wenn man das Geschehen in der Welt wahrnimmt, urteilt man, täglich, stündlich.
Bei Hertha Müller las ich: Wer seinerzeit die Panzer auf dem Platz des Himmlischen Friedens verurteilt hat, hat sich, ohne Chinese sein zu müssen, unausgesprochen selber einbezogen. Hat von sich erwartet, dass er mit den Demonstranten auf dem Platz stünde. Hat für sich ausgeschlossen, dass er auf dem Panzer oder in der Regierung säße. Dafür muss sich niemand rechtfertigen. Wenn man dies von sich selber nicht wüsste, hätte man sich moralisch weggeschmissen. Ohne diese Maßstäbe müssten wir glauben, wenn Mielke sagt, ich liebe euch doch alle.

Zumeist gelangen sowohl die Bedeutung eines Geschehens wie auch das Ereignis selbst erst in der Stille danach ins Bewusstsein. Es braucht offenbar seine Zeit des Eindringens, bis es im Inneren Platz genommen hat. Auch aus diesem Grund scheint es allzu eifrig, wenn am Ort von Katastrophen Scharen von Helfern und Seelsorgern sich darum bemühen, die Menschen zum Sprechen zu bringen als einem ersten Zugang zur Verarbeitung. Zu einem Zeitpunkt, wo ein Mensch sich noch in dem chaotischen Zustand einzelner Bilder und Gefühle oder auch einer Gefühlstaubheit befindet. Was geschieht da im Aussprechen?: Eine Art künstlicher Anordnung der Abfolge des Geschehenen. Ein für alle Mal wird es in Worte gebannt, die keinerlei innere Bewegung mehr zulassen. So bleiben mit den Worten die Ereignisse selbst erstarrt und liegen geballt und schwer im Inneren.
Ich bin oft auf diese Form der unveränderbaren und starr gewordenen Lebenserzählung gestoßen, die einen Menschen zwar einerseits in Art strukturierter Abläufe vor Gefühlsüberwältigung schützt, ihn andererseits aber davon abhält, in einen beweglichen Prozess von Verarbeitung und Bewältigung einzutreten. Ich habe Menschen daran zugrunde gehen sehen.
Wie viel Zeit ein Mensch und ein Leben benötigen, sich seiner eigenen vollständigen Geschichte mit all ihren Verletzungen und Verheerungen zu vergegenwärtigen, kann niemand wissen und niemand voraussagen. Nicht, in welcher Weise es geschieht, nicht wann, nicht, ob es überhaupt jemals geschieht.

Am Erstaunlichsten finde ich immer wieder die Geschichten von Verzö-gerungen, wie etwas im Inneren eingelagert sein kann und bereitliegt (ohne Steine zu gebären) und irgendwann seine Kraft in der Not oder in der Ruhe entfaltet und nach langer Zeit ins Leben eintritt und dadurch – manchmal – eine neue Daseinsform finden kann.
Der chinesische Künstler Ai Weiwei, 1957 als Sohn des Dichters und Re-gimekritikers Ai Quing geboren, ist in Erdhöhlen aufgewachsen. Sein Vater war 1958 wegen sogenannter „antikommunistischer Umtriebe“ in die Verbannung geschickt worden, die er mit Frau und Sohn antrat. Sein Aufgabengebiet war es, die Toiletten zu reinigen, das Niedrigste, das Demütigendste. Nach der Verbannung und einem Kunststudium in Peking lebt Ai Weiwei in den USA. Zwölf Jahre lang verweigert er die Kommu-nikation mit seinem Vater, als könne er ihm irrationaler weise die Erdhöhlen seiner Kindheit nicht verzeihen. Es sollte zwölf Jahre dauern, bis sich sein Inneres so weit geordnet und gefestigt hatte, dass er nicht nur imstande war, das Schweigen aufzugeben, sondern das, was ihm und seiner Familie widerfahren war, in künstlerische Projekte umzuwandeln, zu denen auch der Bau von Erdhöhlen, der Nachbau seiner Gefängniszelle gehörten. Ai Weiwei wird zum härtesten Kritiker der chinesischen Staatsmacht. Die unablässige Beobachtung kehrt er um in eine ständige Präsenz seiner Kunstobjekte. Der Grund, warum Chinas Regierung so schwer damit umgehen kann, ist, dass er jede Situation in Kunst übersetzt. Das ist seine Waffe, seine Klugheit; er hat den Angriff auf seine Person zum Kunstwerk umgestaltet.

Auch Svetlana Geier, genannt „die Frau mit den fünf Elefanten“, das sind die großen Romane von Dostojewski, hat in ihrer Lebensgeschichte einen Schweigeberg mit sich getragen. Sie ist aufgewachsen in Kiew, ihr Vater wurde 1937 verhaftet und starb ein Jahr nach seiner Freilassung an den Folgen von Unterernährung, Krankheiten, Folter. Danach gefragt, ob der Vater je gesprochen habe über das Erlebte, schildert Svetlana Geier dies: „Als wir in der Datscha ankamen, wir hatten keinen Strom, die Petroleumlampe brannte, hat er gesagt, ich will euch erzählen, aber ihr dürft mich danach nie mehr fragen. Damit beginnt für mich eine unheimliche Geschichte, weil ich eigentlich ein sehr gutes Gedächtnis habe. Aber ich sehe – das Zimmer, ich sehe meine Mutter auf seinem Bett sitzen, ich sehe dieses Licht, ich sehe meinen Vater, und ich weiß nichts von dem, was er erzählte. Nichts. Nicht das erste Wort, nicht das letzte Wort, nichts.“
Jahre, Jahrzehnte später wird Svetlana Geier, die nach 1945 als Übersetzerin in Deutschland lebte, ins Kino gehen und sich einen Film ansehen, der im Wesentlichen die Geschichte ihrer eigenen Familie erzählt. Der Vater im Film, ein berühmter Militär, wurde mit großem Theater abgeholt und verhaftet und schon im Auto zusammengeschlagen. „Der Film war zu Ende“, sagt Svetlana Geier, „die Leute standen auf, nur ich konnte nicht aufstehen, meine Bluse war nass, die Kinder und die Enkel, die sonst so auf mich aufpassten, saßen da wie tote Mäuse und wussten nicht, was geschah. Ich wusste – es war kein Wissen, es war irgendwas, dass ich, wenn ich aufstehe, alles da ist, was ich in mir habe und was sich dem Zugriff entzieht. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich weinte.“
Am nächsten Tag ging sie wieder in diesen Film, aber es geschah nichts. Und sie versteht: „Das Kind, das ich damals zu Füßen meines Vaters gewesen war, wollte leben. Und mit dem, was er erzählte, konnte man nicht leben. Man konnte damit nicht in die Schule gehen und sein Abitur machen und studieren. Der starke Wille, der Lebenswille, hat es weggetan.“

Für das Schweigen kennt die deutsche Sprache unzählige Begriffe – von Stille und Ruhe bis zum ewigen Schweigen, dem Tod. Am Anfang eines Lebens steht der Schrei, eine durch das Einsetzen der Lungentätigkeit hervorgerufene erste Atmung, ein Laut, erste Äußerung, an dessen Ende ein letztes Ausatmen.
Zwischen dem ersten und dem letzten Atemzug ist unsere Existenz angefüllt mit Äußerungen, die unser eigenes unverwechselbares Leben kennzeichnen. Sprechen wird uns so selbstverständlich wie das Atmen. Im Eigentlichen ist das Sprechen die Urtätigkeit des Geistes. Nicht das Denken, von dem Heinrich von Kleist sagt, dass es sich erst im Sprechen strukturiere. Unaufhörlich findet ein ständiger Übersetzungsprozess von Erleben, Sehen, Hören, Fühlen in Worte, in Begriffe statt. Übersetzung ist Kunst. Kommunikation heißt Übersetzung.

Während der Wochen, in denen ich an dieser Rede saß und hier las und dort las und sich immer mehr und neue Seitenwege auftaten, die ich interessiert entlang spazierte und die mich sonstwohin führten, von wo ich irgendwann auch wieder zurückkehren musste, träumte ich in einer Nacht von meiner jüngeren Halbschwester. Sie saß mit ihrer kleinen Adoptivtochter auf dem Schoß an einem Tisch, als sich unsere Augen begegneten. Ich ging auf sie zu und beugte mich zu dem Kind hinab, um es zu küssen, und an dem Kind vorbei streckte meine Halbschwester einen Arm nach mir aus und ich umfasste aus der gebückten Haltung heraus ihre Schulter. Dies Bild zeigt nichts als einen innigen Augenblick voller Nähe und Zuneigung. Aber die Wirklichkeit spiegelt es nur in einem kleinen Segment von Wunsch und Möglichkeit wieder. Denn unsere gemeinsame Geschichte hat ihren Ursprung in einem Geflecht von Verschwiegenheiten. Mein Vater, der an der Humboldt-Universität tätig war, folgte kurz vor dem Mauerbau einer Berufung in seine Geburtsstadt München. Noch in Berlin wurde meine erste Halbschwester geboren, in München dann die zweite. Der Bau der Mauer besiegelte eine Trennung, die jeder von uns für lebenslänglich halten musste. Und ich begriff, dass die – für mich – unüberwindbare Grenze meinen Vater und seine neue Familie von der Vergangenheit meines Vaters abschnitt und vor uns, den drei Töchtern aus der früheren Ehe, schützte. Im Schutz der Mauer verschwieg er den neuen Töchtern  seine älteren. In ihren jungen Erwachsenenjahren fielen den Halbschwestern bei der Wohnungsauflösung ihrer Großeltern väterlicherseits Papiere in die Hände, die ihnen die Existenz älterer Schwestern offenbarten. Sie waren über die Maßen empört, stellten ihre Eltern zur Rede und machten ihnen heftige Vorhaltungen. Für einen gewissen Zeitraum gerieten ihre stabilen Lebenszusammenhänge in ein heftiges Wanken. Erst nach jahrelangem Insistieren von allen Seiten war mein Vater endlich bereit zu einer Art Familienzusammenführung. Wir trafen uns, wir lernten uns kennen. Und nach Jahrzehnten des Schweigens saß ich meinem Vater wieder gegenüber.
Hätte zusammenwachsen können, was zusammengehörte? Gewiss. Aber das geschah nicht. Das Irritierende ist, wir können nicht nachträglich an eine Stelle, wo etwas nicht war, das, was nicht war, einsetzen und erwarten, dass es sich dann einfügt in ein ganzes System von Bedingtheiten. Das, was früher fehlte, wird für immer an dieser Stelle fehlen; es ist unmöglich, Vergangenheit in Gegenwart zu verwandeln.
Das Verschweigen hatte etwas in uns allen angerichtet, das allein durch guten Willen und dadurch, dass die Dinge mittels Aussprechens ans Tageslicht kamen, nicht überwunden werden konnte. Ein System von Ursachen und Beziehungsverknüpfungen war aufzublättern und zu besichtigen. Und das offenbarte nach und nach schwärende Wunden und tiefe Gräben, auch Unverständnis und Fremdheit, die wir trotz bester Absicht nicht überwinden konnten.

Über das Jahrhundert der Wölfe sind Bücher geschrieben worden, Doku-mentationen verfasst, Romane, Gedichte … Forschungen beschäftigen sich mit einzelnen Aspekten. Ein Ende ist nicht abzusehen. Und kann es denn ein Ende geben? Kann es sein, dass etwas zu Ende erzählt werden wird? Kann es ein Genug geben? Sind wir je fertig mit dem Erkunden, Begreifen, Erfühlen einer Zeit und der sich in ihr bewegenden Menschen? Wann ist das letzte Wort gesprochen?
Wir wissen es: natürlich nie!
Für die Lebenden spricht der Tod das letzte Wort. Aber damit verschwinden nicht ihre Geschichten, ihre Lebenserzählungen, ihre Taten und Verbrechen. All das bleibt in der Welt. Und indem wir unser eigenes Leben als Teil eines Großen und Ganzen erfahren, gehören auch diese Erzählungen in diesen Verlauf hinein. Der schreckliche Ulbricht und der fürchterliche Mielke sind auf immer in mein Leben eingewoben, da kann ich sie noch so oft raustreten.
Von Sokrates stammt die Aufforderung: Rede, damit ich dich sehe.
Ja, erzählen wir unsere Geschichten, einander und uns selber. Erzählen wir sie in Monologen, in Briefen, Büchern und Tagebucheintragungen. Erzählen wir sie uns Auge in Auge, in vollem Ernst und in aller Aufrichtigkeit. Erzählen wir sie mit leisen oder lauten Stimmen, sitzend oder im Umherlaufen, erzählen wir unsere Geschichten im Wald, auf dem Wasser, singen wir sie in Liedern, in Arien, brüllen wir sie hinaus, flüstern wir sie einem Baum in die Rinde.
Und schweigen wir, und suchen wir die Stille, denn sie gehört unbedingt zum Erzählen dazu.

Wir begannen mit der Schönheit und enden mit ihr:
Schönheit ist die Weise, wie das Sein für das Herz Angesicht gewinnt und redend wird. In ihr wird das Sein liebesgewaltig. Darum ist die Schönheit so stark. (Thomas von Aquin)