Kindheit im Schatten des MfS

Nie mehr kann in der Welt heimisch werden, wer den Mitmenschen als Gegenmenschen erlebt hat. Jean Amery

Die Zeitschrift „Lettre international“ schrieb weltweit eine philosophische Preisfrage für einen Essay-Wettbewerb aus, eine Frage zur Erkundung und Diskussion eines uns alle betreffenden existentiellen Themas zum Ausgang dieses Jahrhunderts. Über hundert Vorschläge wurden diskutiert. Schließlich, nach langen Debatten, einigten sich die Initiatoren, Künstler und Philosophen auf eine Variation der vom französischen Philosophen Michel Surya vorgeschlagenen Provokation: „Die Zukunft von der Vergangenheit befreien? Die Vergangenheit von der Zukunft befreien?“
Ja, geht denn das? Will man das? Eine aufregende, eine verstörende Frage. Und: Ein globales Thema. Man denkt augenblicklich an die Wahrheitskommission in Südafrika, an die Geheimarchive in Moskau. Und natürlich denken wir an die Vergangenheit, die wir die „jüngste“ nennen, um sie von der weiter zurückliegenden gehörig zu unterscheiden. Wir denken an die Aktenberge in der „Gauck-, Birthler-, Jahn-Behörde“ und an die ständig wieder neu aufflammende Auseinandersetzung darüber, ob ein „Schlußstrich“ gezogen werden oder dies keinesfalls geschehen solle. Wir denken an die Vergangenheit als etwas, das ebenso gegenwärtig im Bewußtsein der Welt existiert, wie es sich im Nebel der Geschichte verliert. So viel Vergangenheit wie heute, möchte man sagen, war noch nie. Und der Umgang mit ihr, möchte man hypothetisch hinzufügen, war noch nie so schwierig. So viel verschiedene Vergangenheiten haben sich vor uns aufgetürmt, sind ineinander übergegangen, haben sich überlagert. Umgang, das heißt mit ihr zu leben, sich ihr zu stellen, sie auszuhalten. Ohne das ist Verantwortung nicht denkbar, und nicht Gegenwart und Zukunft. Vergangenheitsbewältigung also ist nötig.  Dieses Wort kann ich nicht ohne Schaudern schreiben – Gewalt steckt darin, Überwältigung, eine unerhörte Anstrengung, daß etwas „endlich erledigt“ sein, „endlich aufhören“ müsse, aber auch etwas Ängstliches, das fürchtet, nicht anders als mit diesem Gewaltakt eine Befreiung von der Last der Vergangenheit herbeiführen zu können.

Wie üblich in der Geschichts- und Vergangenheitsbetrachtung erscheinen die Belange und die Welt der Kinder als Enklave, als ein entfernter Bezirk, der nur insoweit Beachtung verdient, als er (und das für eine relativ kurze Zeit) den Ausgangsort bezeichnet, dem die Kinder mittels Pflege und Erziehung entwachsen, um dann in der richtigen Weise die richtige Welt mit uns zu teilen (Was im übrigen unseren Gedächtnisverlust für die eigene verlorene Kindheit offenbart.). So wäre es auch im Falle unserer derzeit jüngsten Vergangenheit, gäbe es nicht das in der Geschichte totalitärer Systeme einzigartige Phänomen des Mißbrauchs von Kindern durch die Machthaber, in diesem Fall durch den Staatssicherheitsdienst.


Einige Tausend Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 13 und 18 Jahren bespitzelten sogenannte Rowdies, kirchliche Jugendeinrichtungen der „Jungen Gemeinde“, Jugendliche mit „asozialem oder dekadentem Charakter“ oder Jugendliche mit Verbindungen ins westliche Ausland. Sie bespitzelten ihre Mitschülerinnen, ihre Eltern oder junge Menschen mit besonderer musikalischer, sportlicher oder anderer Begabung. Ihr „Auftrag“ war laut Stasi-Dokument, „operativ wichtigen Personen unter die Haut und ins Herz kriechen, damit wir zuverlässig wissen, wo sie stehen“. Zigtausende 13- bis 18jährige in den Jungen Gemeinden, in der Schule, in FDJ-Gruppen, in Vereinen wurden deshalb bespitzelt, ausgehorcht und verraten.

In den 80er Jahren verdiente sich ein Stasi-Mitarbeiter seinen Doktortitel mit einer Arbeit über die „Zersetzung“ von Jugendlichen – einer Variation der „Zersetzungsmethoden“ gegen Oppositionelle, bei denen bereits während der 70er Jahre ein Wandel zu subtileren Methoden stattgefunden hatte. Repressionen waren seither von außen nicht oder kaum sichtbar und ließen nicht erkennen, wer sie veranlaßt hatte. In einer Mielke-Richtlinie sind Sinn und Zweck folgendermaßen beschrieben: „Operative Methode des MfS zur wirksamen Bekämpfung subversiver Tätigkeit insbesondere in der Vorgangsbearbeitung. Mit der Z. wird durch verschiedene politisch-operative Aktivitäten Einfluß auf feindlich-negative Personen in der Weise genommen, daß diese erschüttert und allmählich verändert werden. Ziel der Z. ist die Zersplitterung, Lähmung, Desorganisierung und Isolierung feindlich-negativer Kräfte.“


In der Dissertation nun ist zu lesen, daß es ja schön und gut sei, mit den „feindlich-negativen“ Personen in dieser Weise umzugehen, aber das wäre nicht konsequent genug gedacht: „Gegenwärtig wird die Bedeutung der Zersetzung als einer bewährten klassischen tschekistischen Methode auf dem Gebiet der Jugend von vielen operativen Mitarbeitern noch nicht erkannt oder stark unterschätzt. Im Ergebnis bleiben die angewandten Zersetzungsmethoden sowohl im Umfang als auch in der Qualität weit hinter den objektiven Erfordernissen zurück.“

Im Folgenden ein kurzer Einblick in die moralische und geistige Beschaffenheit des Schreibers, der seine Erkenntnisse im Stasi-üblichen Insektenforscherstil ausbreitet: „Die wissentliche Einbeziehung von IM – und ganz besonders jugendlicher IM – in die Durchführung der Zersetzungsmaßnahmen muß in jedem Einzelfall sorgfältig und mit hohem Verantwortungsbewußtsein geprüft werden. Die Anwendung von Z. erfordert einen gesunden Klassenhaß und eine bestimmte operative Reife, die bei vielen jugendlichen IM noch nicht vorhanden ist. Ein Ziel sollte stets beachtet werden: Der auf Grund der Zersetzungsmaßnahmen häufig entstehende günstige Boden ist für Neuwerbungen oder für die Lancierung vorhandener IM in operativ interessante Funktionen zu nutzen. Bei den Z. gilt es, geschickt die Vertrauensseligkeit, das Mitteilungsbedürfnis, den unausgereiften teilweise überspitzten Gerechtigkeitssinn, die Neigung zur Opposition gegen Stärkere, die Neigung Jugendlicher zur Übertreibung, ihren Wissens- und Tatendrang, ihre mangelnde Lebenserfahrung, Eifersucht usw. auszunutzen. (…) Als Formen der Z. auf dem Gebiet der Jugend haben sich bewährt: anonyme Anrufe in der Nachtzeit, Briefe aus Westdeutschland, der organisierte Besuch Außenstehender zu Treffen der Gruppe auf Grund fingierter Einladungen, der Aufgabe von Annoncen, auf die sich eine Reihe Bürger melden müssen und deren Inhalt den Verdacht gegen einige Gruppenmitglieder lenkt, die Verleitung eines Initiators durch IM zu einem Verhalten bzw. zu Handlungen, von denen sich viele Mitglieder distanzieren, die Ausnutzung von Ordnungseinsätzen oder Razzien und Ordnungsstrafverfahren der Volkspolizei für die Zersetzungsmaßnahmen. (…) Ausgezeichnete politisch-operative Möglichkeiten ergeben sich, wenn ein IM ein Idol für die Gruppenmitglieder darstellt, dem sie bewußt nachahmen. Das kann jedoch nur solchen IM gelingen, die den anderen Jugendlichen an Intelligenz und Erfahrung überlegen sind.“

In den Dokumenten der Enquete-Kommission zur Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur findet sich eine Auflistung der Verletzungen der Rechtsgüter, Freiheit und Menschenwürde von Kindern: „Einschränkung der Schul-, Berufs- und Studienwahl, Zwangsadoptionen und Verhinderung von Adoptionen infolge politischer Unzuverlässigkeit, politisch motivierte Verweigerung des elterlichen Erziehungsrechts für die eigenen Kinder, schwerwiegende Verunsicherung der Kinder verhafteter Ausreisewilliger, indem man sie über den Verbleib ihrer Eltern bewußt im unklaren ließ“.
Ich vermisse in dieser Aufzählung: den Mißbrauch von Kindern als Stasispitzel, den Mißbrauch von Kindern durch Stasi-Spitzel, Verunsicherung und Verstörung von Kindern infolge der gegen ihre Eltern gerichteten Repressionen, bewußtes Eingreifen des MfS in die Familien mittels „Zersetzungsmaßnahmen“.

Kinder von Oppositionellen, Dissidenten, Widerständlern waren unmittelbar und in doppelter Weise betroffen von den „Maßnahmen“ der „tschekistischen Kämpfer“ gegen „feindlich-negative Personen“. Zum einen wurden sie im Stasi-Schach der Zersetzungsmaßnahmen gegen Oppositionelle hin- und hergeschoben, zum anderen waren sie deren schwächsten und wehrlosesten Angehörigen.
Ein über Jahre observierter Mann fand in seiner Stasi-Akte den „operativen Hinweis“ des MfS an die Schule, „sein Sohn solle für alle seine schulische Leistungen, das richtige gesellschaftspolitische Verständnis betreffend, immer mit Auszeichnung benotet und hoch gelobt werden. Gleichgültig, was er schreibt.“  Durch dieses Vorgehen sollte einerseits eine Bindung an die Ideologie, andererseits eine Distanzierung vom Vater erreicht werden. Womöglich könnte darüber hinaus im Bekanntenkreis des Vaters Mißtrauen geschürt werden: Wieso ist der Sohn linientreu? Ist vielleicht die systemkritische Haltung des Vaters nicht echt?

Als meine Kinder 1977 mit mir die DDR verließen, waren sie neun und elf Jahre alt. Hinter sich ließen sie ein Stück Heimat und Kindheit, traumatische Erlebnisse mit der Stasi und ihre ureigensten Wahrnehmungen und Erfahrungen von Staatswillkür. Aber etwas hinter sich lassen, bedeutet ja nie, mit etwas abgeschlossen zu haben. Und so wenig sich Kindheit verliert, sondern für immer das Fundament des Erwachsenenlebens bildet, so wenig verlieren sich die Ängste und die Bedrängnis, denen die Kinder ausgesetzt waren. Tatsächlich wirken sie bis heute nach.

Laut Stasi-Dokumenten stand ich seit 1968 unter „operativer Beobachtung“. Und mit mir meine Kinder. Was das bedeutete, was daraus folgte, war mir zunächst nicht klar. Ende der 60er Jahre lebte ich in einer aus vier Erwachsenen und drei Kindern bestehenden Wohngemeinschaft, der „Kommune 1 Ost“. Wer mit den Realitäten der DDR vertraut ist, weiß, daß allein dieser Umstand Anlaß genug war, das MfS auf den Plan zu rufen. Zumal die Wohnung von einer großen Anzahl junger aufmüpfiger Menschen und einem „feindlich-negativen Personenkreis“ frequentiert wurde. Anläßlich der alljährlich von der Staatsführung einberufenen Rosa-Luxemburg-Demonstration, an der wir, die Kommunarden, mit einem eigenen Transparent teilnehmen wollten, wurden wir mitsamt den Kindern von der Straße weg in ein Polizeirevier verschleppt und dort verhört. Während des Verhörs stellte mir der Vernehmer in Aussicht, er könne „ja mal den Sohn zu einigen Dingen befragen“, zu denen ich stur die Auskunft verweigerte, „denn der scheint ja ein aufgeweckter Bursche zu sein“. In diesem Moment wurde mir mit einem Schlag das Ausmaß meiner Verwundbarkeit und der Gefährdung meiner Kinder bewußt. Da wurde mir klar, daß die Kinder selbst einem direkten Zugriff ausgesetzt sein konnten, und nicht „nur“ Mitleidende und Opfer der Repressionen waren, denen ich ausgesetzt war. Mein Sohn Oli war übrigens damals drei Jahre alt.
Ich habe die Drohung sehr ernst genommen und niemals aus meinem Bewußtsein verloren. Sie wurde zum Knotenpunkt meiner gesamten Existenz in der DDR, ein Schlüsselerlebnis, eine Art Elementarerfahrung, die mir einimpfte, daß ich immer und unter allen Umständen die Kinder in allen meinen Vorhaben mitzudenken hatte. Nicht nur in der Vorsorge: Was geschieht mit ihnen, wenn ich ins Gefängnis komme, was, wenn ich stundenlang verhört werde; nicht nur in Bezug auf die Folgen für meine Kinder also, sondern im Sinne eines Schutzes vor dem direkten Zugriff der Stasi. Ich begriff: Sie machen vor Kindern nicht halt. Mit voller Wucht traf mich die Erkenntnis, daß ich bis dahin nicht weit genug gedacht hatte. Diese Einsicht stellte sich in den folgenden Jahren noch mehrmals ein; ich hatte immer mal wieder nicht weit genug gedacht. Und nach 89 sollte ich das noch einmal denken, als sich allmählich der Schleier hob, der trotz aller Erfahrungen und Informationen über Wesen und Wirken des MfS lag.

Zurück zu dem, was die Stasi „Zersetzungsmethoden“ nannte: „Am geeignetsten sind jene Zersetzungsmaßnahmen, die im Detail an ganz konkreten, oft sogar an momentanen Situationen anknüpfen und geeignet sind, die Entwicklung der Situation in die von uns gewünschte Zuspitzung zu bringen. Analog müssen aus den Kenntnissen seiner Persönlichkeitsstruktur die für die Zersetzungsmaßnahmen geeigneten Ansatzpunkte herausgearbeitet werden.“
Das klingt wie die Versuchsanordnung in einem Labor, und genaugenommen ist es das auch: Da spielen ein paar Größenwahnsinnige die Zerstörung von Menschen durch, und wie man unschwer erkennen kann, ist ihnen dazu jedes Mittel recht. Und eines dieser Mittel sind Kinder.


Auffallend viele Stasi-Spitzel haben sich an die Kinder von Oppositionellen herangemacht. Sie waren immer zur Stelle, waren Tröster und Helfer und wurden den Kindern gute Freunde. Sie haben sie zu Ausflügen mitgenommen, mit ihnen gespielt und gemalt. Sie versorgten die Kinder, wenn die Eltern zu konspirativen Treffen eilten. Kinder waren bevorzugte Objekte, wenn es darum ging, Pfeile in die Schwachstellen „negativ-feindlicher“ Personen zu jagen. Und darum ging es ja immer. Indem Stasi-Spitzel sich in der Familie quasi unentbehrlich machten – und das ging am einfachsten über die Kinder, deren Bedürfnisse auch dann befriedigt sein wollten, wenn ihre Eltern bis zu den Ohren in oppositioneller (oder sonstiger) Arbeit steckten, saßen sie direkt an der Quelle. Sie genossen das Vertrauen der Eltern, sie erfuhren ganz nebenbei von deren Plänen und Aktivitäten, Gedanken und Träumen. Und wenn sie die Kinder in den Schlaf gesungen hatten, war noch Zeit und Gelegenheit, Briefe, Aufzeichnungen, Tagebücher zu studieren und abzulichten, bis die dankbaren Eltern nach Hause kamen. All das war zwar auch möglich, wenn sie sich, wie geschehen, direkt in die oppositionellen Zirkel begaben, aber mit einem wichtigen Unterschied: An keinem Punkt liegt die Persönlichkeit eines Menschen so offen wie im Spiegel seiner Kinder.

So waren diese Kinder im doppelten Sinne Opfer: Opfer eines Vertrauensmißbrauchs und Opfer von Opfern, nämlich von engagierten Bürgerrechtlern, die zugleich zermürbte, bedrohte, überforderte Menschen waren, und nicht selten zeit- und ratlose Eltern.

Die aus dem Mißbrauch und Verrat von Vertrauen und Freundschaft gewonnenen Kenntnisse wurden gesammelt und analysiert und in „Zersetzungsmaßnahmen“ gebündelt. Krisen wurden erzeugt, mitunter durch das Streuen von Gerüchten und durch mißtrauenserzeugende Lügen: „Die Erziehungsprobleme des Sascha T. sind so zu nutzen, daß die Leitung der Oberschule Aktivitäten im Zusammenwirken mit dem Referat Jugendhilfe veranlaßt, um den staatlichen Einfluß auf das Ehepaar T. zu erhöhen. Danach ist mit der Referatsleiterin Jugendhilfe konkret durch den Mitarbeiter abzustimmen, unter welchen Bedingungen die Referatsleiterin ein vertrauliches Gespräch mit der Bekannten des T., M. Wiens (ehrenamtliche Jugendfürsorgerin), führt. In diesem Gespräch läßt die Referatsleiterin durchblicken, daß ihr bei der Vorgehensweise gegen T. die Hände gebunden sind, da das MfS das Ehepaar T. decken würde.“  Unter solchem künstlich hergestellten Druck zerbrachen Familien und Beziehungen, die Kinder begannen zu stehlen, zu stottern, wurden Bettnässer, litten unter Schlafstörungen und Konzentrationsschwäche, denn an die Kinder wurde aller Druck, aller Zwiespalt, wurden alle Ängste unbeabsichtigt, unbemerkt weitergegeben.

Die DDR präsentierte sich nach außen und nach innen mit geradezu aggressiver Vehemenz als ein besonders kinderfreundliches Land. Dem propagandistischen Klischee von einer staatlichen Fürsorge für Mutter und Kind sind viele Menschen aufgesessen – nicht zuletzt ein Teil der westlichen Linken. „Es ist ja einiges kritisch zu sehen, aber das Sozialwesen, die Kindergärten …“  Sie wollen bis heute nicht wahrhaben, daß die flächendeckende Bereitstellung von Kinderkrippen und Kindergärten in erster Linie eine frühzeitige Einbindung der Kinder in ein ideologisch bestimmtes Einheitsmodell der Erziehung und Anpassung beabsichtigte.


Ich habe all die Phrasen und Sprüche in Form von Verheißungen und Versprechen noch deutlich vor Augen und in den Ohren: „Alles für das Wohl unserer Kinder“! Und: „Unser Land gehört den Kindern“. Haben diese Parolen jemanden überzeugen oder beruhigen können? Hat sie tatsächlich jemand für bare Münze genommen? Die Kinder sollten geschützt und verschont sein? Oh nein, den Schutz der Kinder mußte man schon selbst in die Hand nehmen. Das erwies sich als eine wichtige, eine lebenswichtige Aufgabe.

Mir ist nicht bekannt, wie vielen Eltern oder alleinerziehenden Müttern das Erziehungsrecht für ihre Kinder aus politischen oder verschleiert politischen Gründen abgesprochen wurde. Dazu reichte es, Eltern oder alleinerziehende Mütter als „asozial“ zu bezeichnen. Dazu brauchte es in der DDR nicht viel: Arbeitslosigkeit, allgemein unangepaßtes Verhalten, Erziehung der Kinder nach anderen als den „sozialistischen“ Prinzipien.


War das Schicksal eines Menschen erst einmal in die Mühlen des MfS geraten, war er Ziel eines „operativen Vorgangs“ und hatte dieser Mensch Kinder, so war damit schon sicher, daß das MfS jede Möglichkeit nutzte, „Asozialität“ zu konstatieren, und wenn die erforderlichen Tatsachen auch erst herbeigeführt werden mußten. Dies war dann der Grund zum Eingreifen – auf Kosten der Kinder mit dem Ziel, sie der kontrollierten Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit zuzuführen. Eine besondere Variante des üblichen Vorgehens, kritische Menschen zu kriminalisieren. Aus eigener Anschauung sind mir einige solcher Fälle bekannt.

In einem Fall fand eine regelrechte Entführung des Kindes statt, in einem anderen lieferte die Bekannte einer Frau deren Sohn bei der Fürsorge ab, weil die Mutter das Kind nicht rechtzeitig wie verabredet abgeholt hatte. In beiden Fällen landeten die Kinder im Kinderheim, und es bedurfte langwieriger, komplizierter Verhandlungen, sie dort wieder herauszuholen.

Von Zwangsadoptionen hörte ich zum ersten Mal Anfang der 70er Jahre. Alptraumhafte Ängste waren damit verbunden. Besonders Kinder von Inhaftierten waren hiervon betroffen. Zwei an anderer Stelle veröffentlichte Beispiele illustrieren diese Art der psychischen Folter: „Gezielt als Seelenqual eingesetzt wurde die Trennung und Zwangsadoption der Kinder von Inhaftierten. Die Kinder kamen in staatliche Heime oder zu parteitreuen Adoptiveltern, und die Inhaftierten bekamen sie während ihrer Haft kein einziges Mal zu sehen. Als die Kinder nach Jahren dann wieder mit den Eltern zusammengeführt wurden, kam es zu dramatischen Szenen, die Kinder kannten die Eltern nicht mehr, waren von den Adoptiveltern gegen die leiblichen Eltern aufgehetzt worden.“


„In einem Fall aus unserer Sprechstunde war der Sohn im Alter von drei Jahren zwangsadoptiert worden und mit sechs Jahren den nach West-Berlin freigekauften Eltern übergeben worden. Die Mutter berichtet, wie er von hämisch lachenden Grenzern durch den Grenzübergang geschoben wurde und sich mit Händen und Füßen wehrte, nach seinen Adoptiveltern schreiend. Er war in den ersten Monaten völlig verstört, rannte immer von zu Hause weg und versuchte, über die Berliner Mauer zu klettern. Er sprach nicht mit den Eltern, verbarrikadierte sich in seinem Zimmer. In der Schule kam er nicht zurecht. Sein Zustand verschlimmerte sich derart, daß die Eltern ihn nicht mehr halten konnten. Er durchlief im Jugendalter eine Heim- und Psychiatriekarriere und ist heute ein psychisch schwer gestörter, verwahrloster Mensch.“

Die Kommune 1 Ost hat eine hier nicht näher erläuterte merkwürdige Entwicklung genommen, in deren Verlauf alle Kommunarden außer mir eine Karriere als staatstreue Bürger oder Stasi-Mitarbeiter durchliefen. Bevor meine Ehe 1970 geschieden wurde, drohte mir mein Ehemann damit, daß er das Sorgerecht für die Kinder beantragen wolle, weil ich nicht willens und imstande sei, die Kinder im sozialistischen Sinne zu erziehen.
Daß es nicht dazu kam, verdanke ich einem renommierten Anwalt und einer Richterin, die die Argumente meines Ehemanns nicht überzeugten. Das Sorgerecht wurde mir zugesprochen.
Bis zu meiner Ausbürgerung lebte ich in einer Art Balance, auf einem haardünnen Grenzstreifen: Wie weit kannst da gehen? Was kannst du den Kindern erzählen, ohne sie in Ängste zu stürzen, in Mißtrauen gegen andere Menschen? Wie kannst du ihre Unbefangenheit erhalten, wodurch zerstörst du sie? Wie sollen sie begreifen können, wem sie vertrauen dürfen, wem nicht? Was könnten sie unbedarft ausplaudern? Und was überhaupt ist ihnen zumutbar?

Wieviel der wirklichen Wirklichkeit haben die Kinder begriffen, geahnt, mitgekriegt. Und was ist ihnen nicht alles vorgespielt worden. Ist ja nicht so schlimm, liebes Kind, dir passiert nichts, uns passiert nichts, und dann passiert es doch. Es passiert den Eltern, die inhaftiert werden, es passiert ihnen selbst, die in Heime kommen oder zwangsadoptiert werden. Wieviel Lüge und Vorsicht ist ihnen anerzogen worden. Wie früh haben sie begreifen müssen, welche Dinge zu Hause, welche in der Schule, welche Fremden gegenüber geäußert werden durften, und welche nicht. Eine zweite Haut, eine zweite Wirklichkeit, ein geheimes Leben – und die Überführung dessen in die Normalität – eine Erziehung zur Abnormität.

Die Sorge um die Kinder veranlaßte mich dazu, mich mit meinem Scheidungsanwalt über Möglichkeiten ihres Schutzes zu beraten. In meinen Stasi-Akten fand ich folgende „Operative Information 1602/74“: „Die Groszer teilte einem IMV mit, daß sie eine Nachricht erhalten habe, sich vor dem MfS in acht zu nehmen. Sie erzählte dem inoffiziellen Mitarbeiter von nachgenannten Maßnahmen, die sie auf Grund der Warnung durchgeführt habe. (…) Am Montag, dem 21.10.1974, will sie das Sorgerecht für ihre Kinder Oliver und Josefine auf ihre Mutter überschreiben lassen, um damit einer evtl. Heimeinweisung im Falle ihrer Inhaftierung vorzubeugen.“           Vergeblich waren also die Bemühungen, weit genug zu denken und umsichtig zu handeln.

Die Stasi-Mitarbeiter hoben bei der Aufzählung meiner feindlich-negativen Eigenschaften immer wieder als besonders schwerwiegend hervor, daß ich meine Kinder antiautoritär erzöge: „Die Groszer steht durch ihr Verhalten und ihre Lebensweise durch die Erziehung ihrer Kinder in ständigem Widerspruch zu den gesellschaftlichen Normen des Zusammenlebens. Es ist bei der Groszer kein Willen zur Unterordnung unter diese Normen zu erkennen.“ Und: „Operativ-bedeutsame Hinweise: Die Groszer hat sich zum Ziel gesetzt, Kinder des Freundes- und Bekanntenkreises nach westlichem Vorbild antiautoritär zu erziehen“. Und so weiter und so fort. Gebetsmühlenartig werden die Begriffe „feindlich-negativ“ und „antiautoritär“ heruntergeleiert. Die unablässige Wiederholung führt vollends zur Sinnentleerung. Aber das täuscht. Es ist durchaus etwas gemeint: Die Fixierung auf die „antiautoritäre Erziehung“ ist ein Ausdruck der Tatsache, ist das Eingeständnis, daß der reale Sozialismus nur mit angepaßten und gehorsamen Menschen am Leben zu erhalten war, mit Menschen, „die ordentlich und diszipliniert auf der ewigen Suche nach dem verlorenen Glück leichtgläubig zum Opfer der Demagogen werden“ , wie es der Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz beschrieben hat. Wenn es nicht gelang, die Kinder zu dressieren und die Jugendlichen im Zaum zu halten, schwammen ihnen die Felle davon, war ihre Zukunft gefährdet. Die Folgen dieser Erziehung beschreibt Maaz so: „Dabei werden Kinder von Anfang an als Objekte behandelt, die Erwartungen der Eltern und Normen der Gesellschaft zu erfüllen haben.(…) Das Kind erfährt nicht, daß es um seiner selbst willen angenommen wäre, daß es in seinen je einmaligen Möglichkeiten gefördert und in seinen Grenzen und Behinderungen akzeptiert sei. Sondern es wird einem Maßstab unterworfen und so an einer Fremdbewertung gemessen, die unweigerlich Selbstunsicherheit, Abhängigkeit und Schuldgefühle zur Folge hat. Nie ist man gut genug, durch noch mehr Anstrengung wäre vielleicht noch mehr Anerkennung und Annahme zu erreichen, und wenn eine Bestätigung erfolgt, muß sofort die nächste Anstrengung einsetzen, um ja nicht die Gnade der Jury zu verlieren. So verlernt das Kind, auf das zu achten, was es will und braucht und fühlt. Es wird dressiert herauszufinden, was es erfüllen soll. Es muß eine umfassende Verschwörung der Mächtigen – Eltern, Lehrer, Erzieher, Ärzte, Psychologen, Pastoren, Bürokraten – aufgeboten werden, um diese Anpassung zu erzwingen und die natürlichen Reaktionen des Protestes und der Verzweiflung der Kinder zu neutralisieren.“

Eine Erziehung, die Emanzipation statt Anpassung anstrebt, von der Stasi stereotyp antiautoritär genannt, hatte staatsgefährdenden Charakter – mußte also ernst genommen werden, unterdrückt, verfolgt und verhindert werden. Der Zugriff der Stasi auf die Kinder war also ein doppelter: Zum einen wurden die Kinder von Inoffiziellen Mitarbeitern benutzt, um einen sicheren Stand in der Familie zu haben mit dem Ziel, deren psychische Struktur und „Schwachstellen“ auszuforschen. Zum anderen wurde subversive „Erziehungsarbeit“ gegen die Eltern an den Kindern geleistet.

„Wir waren reichlich naiv, als wir wähnten, dem Alptraum entrissen zu sein. Jetzt kann man ziemlich deutlich sehen, daß der Kommunismus, der bereits einen beträchtlichen Teil unseres Lebens verschlungen und in eine Abnormität verwandelt hat, die für uns die einzige Form von Normalität war, weiterhin unser Schicksal in einer Freiheit verstümmelt, die wir nicht zu leben verstehen, weil wir der Reflexe eines normalen Verhaltens verlustig gegangen sind.“ So Octavian Paler.

In den letzten Jahren habe ich immer wieder mit jungen Menschen über ihre Kindheit, über ihr Zusammenleben mit Eltern, die der Opposition angehörten, über ihre Erfahrungen mit der Stasi und ihre Wahrnehmung der Geschehnisse gesprochen. Diejenigen, die in den 80er Jahren Kinder waren, erinnern sich in einer Weise, die mir den Eindruck vermittelte, sie erlebten jetzt hauptsächlich die Erleichterung, daß all das vorbei sei. Zwar sprachen sie über Ängste, Unbegreifliches und Sonderbares, darüber, daß sie soviel allein waren. Aber fremde Männer vor dem Haus, in den Fluren, vor den Wohnungen, Hausdurchsuchungen, die Gespräche der Eltern über die Stasi, das war ein Normalzustand. Jonas P., zur Zeit unseres Gesprächs siebzehn Jahre alt: „Die Stasi, das war eine Art Lebensnormalität. Ich konnte sie erkennen, je mehr ich mitkriegte und verstand. Sie waren einfach immer irgendwo da.“
Eines allerdings ist ihnen ein großes, ein hautnahes Problem. Ich fragte sie, wann und auf welche Weise sie davon erfahren haben, daß einige ihrer engsten Erwachsenen-Freunde Stasi-Spitzel waren. Und da brach sehr viel Wut, Trauer und Enttäuschung auf. Johanna P.: „Zuerst habe ich gedacht, die Stasi, das waren doch diese dubiosen Gestalten. Und unsere Freunde, die wurden von denen ausgefragt, die haben nur einfach nicht zu uns gehalten. Das war schon eine Enttäuschung. Aber dann wurden es immer mehr. Und daß sie selbst bei der Stasi sein sollten, daß die berichtet haben, auch über uns, das konnte ich gar nicht glauben. Verstehen tu ich’s bis heute nicht.“
Jonas: „Es kam alles so plötzlich, und eine zeitlang war ich ziemlich verwirrt. Wer noch? Was kommt noch raus? Ich wurde mißtrauisch zu unseren Freunden. Es war unheimlich; wie in einem Krimi. Man fragt sich, wer ist der Mörder, und am Schluß kommt raus, der, den man am wenigsten verdächtigt hat.“


Anders die jetzt über Zwanzigjährigen, deren Kindheit 15 Jahre und länger zurückliegt. In ihren Erinnerungen gibt es dunkle Flecken, in ihren Träumen Angstgespenster. Und während die Kinder der 8Oer Jahre gar kein gesteigertes Interesse an der Erörterung der Vergangenheit haben („Ach, das ist ja alles schon so lange her.“), fragen die der 70er Jahre eindringlich nach. Und zwar seit 1989 ganz besonders nachdrücklich, als ob mit diesem Datum ihnen ihre eigene Vergangenheit, ihre Kindheit erst zugänglich würde. Sie lesen die Stasi-Akten ihrer Eltern, und sie sind fassungslos. „Das ist doch gar nicht möglich! Das ist mir (uns) geschehen?“
Es hat den Anschein, daß ihre Wunden nicht verheilen können, daß die Erfahrung einer Hausdurchsuchung, einer Verhaftung der Eltern von der Straße weg, ihre Erfahrungen mit verstörten, bedrängten Eltern übergegangen sind zu einem verfestigten Gefühl von Ausgeliefertsein, das nicht wirklich rückgängig zu machen ist.

Zwar gibt es verstreut Berichte von Kinder, zeugen Briefe, Zeichnungen, Tagebücher von ihren Konflikten, Wahrnehmungen, ihrer Bedrängnis und ihren Ängsten. Zur Sprache kommt das aber allenfalls als Unterpunkt oder als Illustration, als Randnotiz. Und bevor ihre Zukunft von den Folgen der Vergangenheit befreit werden kann, muß sie, die Vergangenheit, in allen Punkten zumindest offengelegt sein.

Kindheit im Schatten des MfS, das sind viele Bilder, aber noch mehr Negative, die erst entwickelt werden müssen.

    Quellen:
Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ des Deutschen Bundestages 1992-1994, Band II, Opfer, Opposition und Widerstand.
Baeyer-Katte, W.: Soziale Marginalisierung und systematische Desintegration als Methoden des Meinungsterrors. In: Behnke, K./Fuchs, J., Zersetzung der Seele: Psychologie und Psychiatrie im Dienste der Stasi. Hamburg 1995
Aus dem Maßnahmeplan zur Zersetzung des Bürgerrechtlers Wolfgang Templin; vgl. Behnke, K.: Lernziel: Zersetzung. Die „Operative Psychologie“ in Ausbildung, Forschung und Anwednung. In: Behnke, K./Fuchs, J., Zersetzung der Seele: Psychologie und Psychiatrie im Dienste der Stasi. Hamburg 1995
Pross, C.: Wir sind unsere eigenen Gespenster. Gesundheitliche Folgen politischer Repression in der DDR. In: Behnke, K./Fuchs, J., Zersetzung der Seele: Psychologie und Psychiatrie im Dienste der Stasi. Hamburg 1995,
Maaz, H.-J.: Affekt gegen die Wahrheit. In: Behnke, K./Fuchs, J., Zersetzung der Seele: Psychologie und Psychiatrie im Dienste der Stasi. Hamburg 1995