.10. Kunststücke lernen

Ich denke sehr oft, das halte ich nicht aus, das ist einfach zu viel: Brände in der Nähe von Tschernobyl, der Wahnsinnige in Washington, Hunger, Armut, Elend in Afrika, die Bilder von den Intensivstationen, das Wissen von Gewalt in den Familien, die Frauenhäuser sind überfüllt. Es werden die Kinder sein, die am meisten an den Folgen zu leiden haben, besonders dort, wo sie auf Hilfe von außen angewiesen sind, von der sie jetzt abgeschnitten sind. Die wirkliche Zumutung ist ja nicht der Abstand, sondern quälende Enge. Es sei ein Zeichen von Wohlstand, sagt die Philosophin Svenja Flaßpöhler, Abstand halten zu können. Berühren lassen sollen wir uns aber vom Leid.

Es blühen die Verschwörungstheorien. Eine Mitursache für die Renaissance von Verschwörungstheorien ist, wenn in der Gesellschaft eine Diskurs- und Transparenzlücke entstanden ist. Wie es eben Nichtwissen hervorrufen kann. Interessant, dass bei allen Verschwörungstheoretikern, den Berufsprotestlern und den Besserbescheidwissern am Ende immer die üblichen Verdächtigungen auftauchen, Bill Gates, das Pentagon, Versuchslabore… Und wenn gar nichts mehr geht, die Chinesen. Mein Nachbar, der Pfleger, sagt, er könne ein Lied davon singen. Selbst die eigenen Kollegen gehen langsam dazu über, von Grippe, von Übertreibung, vom System, das uns ans Leder will, zu faseln.

Aus Einsicht und im Vertrauen auf Expertenwissen sind wir Beschränkungen eingegangen. Aber die Fragezeichen werden ja nicht weniger. Aus einer Sendung mit Scobel, Vom Umgang mit Nichtwissen: Das Nichtwissen auf eine besonnene und gefahrenbewusste Art und Weise auszuhalten – das Kunststück muss noch gelernt werden.

Und: Uns der Grenzen der Wissenschaft bewusst werden. Die Wissenschaft selber ist ein Lernprozess.

Svenja Flaßpöhler sagt: Die Pandemie kehrt Hierarchien um, Stadt – Land, Produktion und Reproduktion. Immer wurde die Reproduktion gesellschaftlich unterschätzt und unterbezahlt. Der Ausnahmezustand wertet die Reproduktion auf, das Kümmern, Putzen, Kochen, Versorgen… Und genau dies ist nun systemrelevant.

Hoffen wir, dass diese gesamtgesellschaftliche Erkenntnis nicht ohne Folgen bleibt. Hoffen wir, dass andere Erkenntnisse durch die Erfahrung mit der Pandemie Kraft entfalten hin zu Veränderungen.

Aus einem Interwiev von GEO mit Prof. Johannes Vogel, Direktor des Naturkundemuseums:

Seit wir uns die Erde „untertan“ gemacht haben und Tiere domestiziert haben, leben wir mit neuen Krankheiten, die von Tieren auf uns übergehen. Wir haben viele der sogenannten Zoonosen, die früher von Schafen, Ziegen, Kühen, Pferden und anderen Tieren auf uns übertragen wurden, überlebt und reagieren darauf heute nicht mehr. Aber je breiter wir uns nahrungsmäßig in der Natur umtun, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass neue, krank machende Erreger entstehen. Und dadurch, dass wir als Menschheit so eng mit einander verknüpft sind, begünstigen wir natürlich die Ausbreitung jedes neuen Schadvirus. 

Die Pandemie ist nun ein spürbarer Ausdruck dafür, dass alles, was wir Menschen tun, zu uns zurückkommt. Billigklamotten – Baumwolle kostet heutzutage nichts mehr. Aber ihr Anbau ist ein riesiger Faktor für die Versteppung und Versalzung großer Landstriche… Wir müssen verstehen, dass der billige Konsum woanders zu Elend und Zerstörung führt, die am Ende zu uns und unseren Kindern zurückkommt.

 

Es ist so trocken, jetzt das dritte Jahr. Im letzten Herbst wurde vor nachmittäglichen Spaziergängen in den Wald gewarnt, weil ohne erkennbare Vorzeichen sich plötzliche ganze Äste von den Bäumen lösten und runterknallten. Normalerweise ist der April der Monat, in dem ca. 50 l Regenwasser fallen, jetzt sind es 1,5. Schon jetzt, bevor die Saat ausgebracht ist, verzweifeln die Bauern und scharren im Staub. In der Politik findet eine Verschiebung statt, weg vom Klima, hin zu den Autos. Alles, was ich jetzt nur aufgezählt habe, sind komplexe Themen, zu denen ausführliche Recherchen, Betrachtungen, Beschreibungen gehören. Die füllen einen ganzen Tag und noch mehr Tage. Und ich komme nicht hinterher, ich komme nicht mit.

Wieder versuche ich zu dosieren, klug und auch selbstschützend einen Spagat üben: offen bleiben, mich nicht verschließen, bei Verstand bleiben, und am Ende tun, was derzeit in meinen Möglichkeiten liegt. Was ist das?

Meinem Nachbarn, der Pfleger im Krankenhaus Friedrichshain ist, einen Gruß und eins meiner Editionen an die Tür stecken. Immer das Vogelhäuschen befüllt halten. Auch auf dem Balkon eine Vogeltränke installieren. Dafür sorgen, dass die im Garten mit Wasser gefüllt ist. Endlich meinen Balkon von den letzten vertrockneten letztjährigen Resten befreien, Neues pflanzen, gießen. Mein Fahrrad satteln, zu dem Vietnamesen im Bahnhof fahren, da ist der größte Abstand möglich, da bekomme ich Blumenerde und Pflanzen. Hauptsache groß, üppig. Für die ganze Vorzieherei habe ich in diesem Jahr keine Geduld. Ich brauche es jetzt! Ich werde verschwenderisch sein: Schönheit rettet die Welt.

Ich habe mit Mario, Inhaber meines Lieblings-Copyshop in der Stadt telefoniert. Er möge mir gute Kopien von Ick sitze da und esse Klops im Format A 5 schicken. Die werde ich falten und heften und mit einem Gruß versehen ins Altenheim, in dem ich meine Hospizausbildung gemacht habe, und ins Hospiz bringen. Dort werden sie verteilt an diejenigen, die daran Freude haben können.

Mein heutiger musikalischer Morgen begann mit Bach und Angela Hewitt: …. wie immer tausend Dank, Micha, fürs Vorbeischicken. Am Abend dann verspürte ich das Bedürfnis, das Adagio von Samuel Barber zu hören, das ich kürzlich nannte.

Das Adagio for Strings ist ein Arrangement des zweiten Satzes seines Streichquartetts op. 11. Puff Daddy benutzte die Chorversion des Agnus Dei für den Anfang seiner Coverversion von Every Breath you Take von Sting. Ich habe mir beides angehört. Stings Schubertlieder liebe ich sehr. Aber als jungen Mann von Police hatte ich ihn gar nicht mehr in Erinnerung. So lange her. Was für eine phantastische Stimme! Was für ein schöner Mann!

 

Und morgen, meine Luzie, lese ich wieder vor, deinetwegen und weil wir uns nicht sehen können, aber genauso gut meinetwegen: ich wünschte, Pu der Bär hätte noch wenigstens zwei, drei Bände mehr, ich kriege gar nicht genug.