Heute war es vor sieben, als ich mit dem Fahrrad zum See gefahren bin; leere Straßen, schlafende Stadt. Ich treibe auf dem Rücken liegend im Wasser und gucke in einen in blassblauen und grauen Tönen mit Weiss durchzogenen marmorierten Himmel, bis ich mich aufgesogen fühle von Licht und Zeitlosigkeit. In Gegenwart von Enten, Schwänen und den auf blanken nassglänzenden Baumstämmen regungslos stehenden Kranichen.
Ein Dutzend Menschen vielleicht, mehr oder minder betagt, trifft sich lose, entledigt sich der Kleider; wellige Landschaften, hängende Gärten. Schwimmt seine Runden. Und fädelt anschließend auf Handtüchern oder im schmutziggrauen Sand schwankend wie das Rohr im Winde seine Beine wieder in die Unterhosen …
Manch einer schwimmt täglich, das ganze Jahr hindurch. Auch im Winter? fragte ich einmal. Was für ein Winter? Die Antwort hohnlachend. Ein ernstzunehmender Winter ist nur, wenn der See zugefroren ist. Wann zuletzt? Vor Jahren. Aber zwei, drei bauchige Männer und ein knotiger Dürrer schlagen sich dann Löcher ins Eis.
Seit mein Sohn einmal im Winter in Finnland gewesen ist, tut er das auch: Eisbaden. Bekleidet mit einer Wollmütze. Ein sensationelles Körpergefühl, sagt er. Schockartiges Erwachen sämtlicher Körperfunktionen… Ein so hellwacher geistiger Zustand.
In dem Sommer, als Emmi erkrankte, bin ich oft und auch zu sehr früher Stunde an den See gefahren. Ich erinnere mich genau an diesen körperlich-seelischen Zustand, in dem ich mich befand, wenn ich auf dem Rücken schwimmend den tiefen Himmel, das Wasser, mich und Emmi miteinander verbunden fühlte. Trauer und Verlassensein kann man nicht vorwegnehmen, das hebt man auf für die Zeit danach, dennoch waren Elemente dieses Schmerzes eingebunden in diese Momente. Und so tauchen Sommersee und Gewölbe aus Unendlichkeit über mir und das Denken an Emmi in ihrem letzten Sommer ganz von selbst auf, sowie ich ein Stück geschwommen bin und mich dann auf den Rücken drehe und die Zeit still steht und Vergangenheit und Gegenwart und Zukunft aufhebt.
Dass ein Mensch, der gestorben ist, in den Himmel kommt, bleibt als ein mythisches Bild unbeschadet über die Jahrzehnte eines Erwachsenenlebens hinweg in irgendeiner Kindheitsheitskammer des Geistes erhalten. Ich bin kein religiöser Mensch, zumindest nicht in einer in meinem kulturellen Umkreis vorzufindenden und praktizierten Form. Dass aber ein Mensch in einer nicht stofflichen Weise in irgendeiner speziellen Energie im Universum erhalten bleibt, ist ein Bild, dem ich treu bleibe. Und das mir treu bleibt. Und es ist unerheblich, ob ich diesen Ort nun Universum, Himmel, eingeschrieben in meine Existenz oder irgendwie nenne, aber wenn ich auf dem Rücken im Wasser in diesem See in den Himmel gucke, finde ich da Emmi.
Sie fehlt mir und manchmal denke ich ganz selbstbezogen in irgendeiner ziellosen Wut, warum ich unverschuldet um das Vergnügen und den Trost unserer Gespräche gebracht bin, grad jetzt. Und ich gehe auf den Balkon und wedel mit meiner geballten Faust ein bisschen in Richtung Himmel herum.
Bei Hannah Arendt, die ich grad viel lese, gefunden: Menschlich, nicht „existentiell“, ist es ja doch so, dass der eigene Tod normalerweise … von dem Tod der anderen, die zu einem gehören, vorbereitet wird, als sterbe die Welt langsam ab bzw. das Stückchen Welt, das man sein eigen nennt.
Man wächst in das Alter und in ein Aussehen hinein, das sich gründlich unterscheidet von jedem anderen vorherigen Zustand. Nach Ähnlichkeiten suchen… Bringt man dieses Foto von mir mit den langen dunklen Haaren noch in irgendeiner Weise mit dem neuen Aussehen und den fast weißen Haaren zusammen? Kann ich noch erkannt werden? Ein erstauntes Ach-das-bist-du? ist niederschmetternd. Warum eigentlich? Bin ich am Ende selbst so fixiert auf glatte Haut und Jugend? Wahrscheinlich ist, dass wir alle unsere Momente der plötzlichen Erkenntnis unserer Endlichkeit haben, eine Art Schrecksekunde der Bewusstwerdung. Gerade kommen wir so eben mit dem Zustand zurecht, den wir innehaben, haben uns darin eingerichtet, und dann das, plötzlich sechzig, siebzig!… Aber, wir atmen auf, doch noch weit entfernt von siebzig, achtzig!
Für die Kinder-Alben habe ich jeweils zwei Seiten mit etwa zwanzig Fotos von mir selbst zu einer Collage verbunden, Schulfoto mit Schleife, Konfirmation im schwarzen Samtkleid, junge Mutter, über drei Jahrzehnte mit den heranwachsenden Kindern… Blond, dunkel, langhaarig, kurzhaarig, unterschiedliche Brillen, aber vor allem die runde Eulenbrille … Unmerklich älter und älter werdend, aber immer ich. Und ich weine bestimmt nicht alten Zeiten hinterher; was bin ich froh, dass ich die gemeistert habe. Um nichts möchte ich auf die über all die Jahre und Jahrzehnte erworbene Klugheit und Selbsterkenntnis verzichten (viel schmerzlich Erworbenes). Und so viel Neues liegt noch vor mir. Jeden Tag kann ich auf das gucken, das noch anzueignen mich begeistert – in der Literatur, Philosophie, gewaltfreie Kommunikation, über die ich gerade der Enkel wegen lese, die verschiedenen Beziehungsgeflechte, die Enkelkinder selbst – andere Zeiten, eine andere Dynamik des Heranwachsens – alte Fragen verschwinden, sie zerplatzen wie Bläschen, neue Fragen erscheinen wie aus dem Urschlamm. Und wie sehr beglückt es mich, dass ich aus dem, das ich für mich als Alterspubertät definiert hatte, einigermaßen glimpflich herausgekommen bin. Das war eine seltsame Zeit, es galt, mich schließlich auch von meiner Jüngsten zu emanzipieren, loszulassen, in eine neue Ära von Gefühlsschwankungen und emotionalen Herausforderungen einzutreten – mit gänzlich ungewissem Ausgang. Immer auf der Suche nach der Balance, Balance, Balance.
Die Endlicheit des Lebens vor Augen, die Begrenztheit des komplexen Gefüges Körper und seiner in weiten Teilen völlig unerforschten Zusammenhänge.
Das wird Gesprächsthema. Dieses Wie-geht-es-dir? wird plötzlich auf konkrete Weise beantwortet, nicht allgemein und nicht ausschließlich auf der rein psychischen Ebene oder der von Taten, sondern auch auf der körperlichen: der Rücken, eine Erkältung, die andauert, unerträgliche unerlaubte Schwäche, der Fuß, das Gehen, der Schlaf…
Der Körper wird in den Adelsstand erhoben, von der Magd zur Fürstin.
Bei Siegfried Lenz ist zu lesen: Seit es sie gibt, hat sich die Literatur des alten Menschen angenommen, hat ihn dargestellt mit seinen Heimsuchungen und Illusionen, in seinem Elend und dem Bedürfnis nach Anerkennung. Da liegt es nahe zu fragen, wie die Schriftsteller selbst auf das Alter reagieren … (Über den Schmerz).
Ja, früher vielleicht: Homer, Shakespeare, die alten Könige… Heutzutage musst du sehr suchen, um etwas zu finden. Lenz, Walser, Roth, die alten Männer, die über das Alter schreiben. Frauen sind schwer zu finden.
Und sowieso Dieter Hildebrandt: Alter ist nicht direkt verboten, aber man sieht es nicht gerne.
Slavenka Drakulic, eine kroatische Schriftstellerin/Journalistin in einem Essay (Mit dem Unbekannten flirten. Deutschlandfunk 2014): Alt auszusehen ist in unserer Gesellschaft nicht akzeptabel.
Sie hat, wie ich es selbst auch seit Jahren mache, nach Büchern von Frauen über das Altwerden gefahndet. Die Klassikerinnen, natürlich Beauvoir, Greer… (Beauvoir: Frauen altern besser als Männer.)
Drakulic: …Sollten Sie nicht so schön sein wie Gloria Steinem und in ihren Siebzigern nicht fantastisch aussehen, wenden Sie sich vertrauensvoll an Amazon. Wenn Sie hier Bücher über das Altern suchen, finden Sie weitaus mehr als Sie erwartet hätten: eine lange Liste von Publikationen über Schönheit und wie man sie erhält. Sie erfahren alles über Hormoneinnahmen und den wirksamen Einsatz von Knoblauch. Unter der Rubrik Bestseller über das Altern finden Sie diverse Anti-Aging-Schönheitsbibeln: Altern, ohne alt zu werden. Ich war fasziniert von der Tatsache, dass die Suchmaschine Ihnen genau das Gegenteil von dem anbietet, das Sie suchen.
Und das sind die Ratschläge: Lernen Sie Fallschirmspringen, flirten Sie mit einem Unbekannten…
Die Unterstellung, dass wir um Gotteswillen nicht altern wollen, die Anmutung, nicht altern zu dürfen, ist bereits fest im Algorithmus verankert. Eine gigantische Schönheitsindustrie ist aus dem Boden gewachsen, die Frau dabei hilft, dieses Ziel zu erreichen: Ihr Alter zu verbergen. Im Silicone Valley werden Milliarden auf die Forschung verwandt, den Alterungsprozess aufzuhalten. Was daraus folgt, ist auch klar, die Reichen leben länger, die Armen sterben jung.
Es entsteht der Eindruck, als sei das weibliche Leben zu Ende, sobald der Alterungsprozess einsetzt. Könnte dieser soziale Druck auf ältere Menschen, vor allem auf ältere Frauen, vielleicht der Grund dafür sein, dass Frauen keine literarischen Werke über ihr persönliches Älterwerden schreiben? Der Grund dafür, dass das Altern in der Privatsphäre verhaftet bleibt und nicht öffentlich verhandelt wird?
Wenn Frauen nicht über ihr eigenes Altern schreiben, haben sie doch einen anderen Weg gefunden, um aus einer anderen Perspektive indirekt davon zu berichten, indem sie über Krankheit schreiben, Demenz, Alzheimer, Krebs. Die Mütter, die Väter, die Liebsten…
Wenn man den Begriff alt in der Suchmaske durch Alzheimer ersetzt, öffnet sich eine Tür in eine Welt voller Leid und Verfall und unermesslicher Einsamkeit, in der es kein Flirten mit einem Unbekannten gibt, es sei denn, der Unbekannte wäre ein Mensch im Spiegel des Badezimmerns.
Noch einmal die wunderbare Hannah Arendt, aus einem Brief an Carl Jaspers, der sein Alter beschreibt als einen Zustand: „Wenn man gerade soweit ist, dass man anfangen könnte…“ Es ist eben immer noch wahr, dass die Götter ihre Lieblinge jung sterben lassen, zwar nicht wörtlich, aber in dem Sinne, dass sie ihnen zum Entgelt den Trost des Alters „alt und des Lebens satt“ nicht gönnen. Das zweideutige ironische Geschenk der Götter ist, dass der Tod immer noch etwas finden muss, was er zugrunde richtet. So wächst man ihm nicht zu wie die jüdischen Patriarchen, bis er ihnen in den Mund hängt wie die reifen Früchte des Feigenbaumes, unter dem sie sitzen und auf ihn warten. Das ist der Preis, den man zahlt dafür, dass man lebendig ist, solange man am Leben ist; dann trennt eben doch der Tod und nicht die Last des gelebten Lebens.
Und noch ein Zitat. So ist das nun mal mit Schätzen, sie zu heben dient nicht nur der eigenen Beglückung, sondern potenziert seinen Sinn, wenn wir sie mit anderen teilen dürfen.
Beauvoir: Wenn die Alten die gleichen Wünsche, die gleichen Gefühle, die gleichen Rechtsforderungen wie in der Jugend bekunden, schockieren sie; bei ihnen wirken Liebe, Eifersucht widerwärtig oder lächerlich, Sexualität abstoßend, Gewalttätigkeit lachhaft. Vor allem fordert man von ihnen heitere Gelassenheit; man behauptet einfach, sie besäßen sie, was einem erlaubt, gleichgültig über ihr Unglück hinwegzusehen. Weichen sie von dem erhabenen Bild ab, das man ihnen aufnötigt, nämlich dem des Weisen mit einem Heiligenschein weißer Haare, reich an Erfahrung und verehrungswürdig, hoch über dem menschlichen Alltag stehend – so fallen sie tief darunter: Dem Bild steht das des alten Narren gegenüber, der dummes Zeug faselt und den die Kinder verspotten. Auf jeden Fall stehen die Alten, sei es dank ihrer Tugend, sei es durch ihre Erniedrigung, außerhalb der Menschheit.
Aber: Wann eigentlich beginnt das Alter?